Vergangenheit: Fortdauernde Suche nach Konsequenzen

Als Klaus von Bismarck 1995 bekannte, er habe als Wehrmachtsoffizier „auf einer Insel des Selbstbetruges gelebt“, lagen bereits fünf Jahrzehnte intensiver Suche nach eigenen Irrtümern und eigener Schuld hinter ihm. Wiederholt zog er Konsequenzen aus gewonnenen Einsichten, welche großes öffentliches Aufsehen und nebst Zustimmung auch heftigen Widerspruch, darunter Morddrohungen, erregten. Nach 1945 unterstützte er aktiv den Aufbau eines demokratischen und pluralistischen Deutschlands. Ruth-Alice von Bismarck engagierte sich beim Neuaufbau zunächst vor allem für lokale Gemeinschaften und Belange, später erweiterte sie ihren Wirkungskreis. Sie verband ihre Bemühungen, aus Versäumnissen und Fehlern der Vergangenheit zu lernen, stets mit der Suche nach neuen Leitlinien für verantwortungsbewusstes Christsein.

Politische und persönliche Konsequenzen Klaus von Bismarcks

Es fiel Klaus von Bismarck insofern leicht, sich aktiv an der Aufarbeitung der zahlreichen beispiellosen Verbrechen der nationalsozialistischen Führung zu beteiligen, als er ihr selbst in kritischer Distanz oder Ablehnung gegenübergestanden hatte, etwa bei der Missachtung von Befehlen als Wehrmachtsoffizier. So förderte er nach 1945 in allen seinen beruflichen Stationen und in vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten den kritischen Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte. Ein erstes öffentliches Zeichen seiner fortschreitenden Erkenntnis über eine eigene Mitverantwortung setzte er 1954 mit dem freiwilligen Verzicht auf frühere Besitztümer in Polen. Als WDR-Intendant war es für ihn selbstverständlich, einschlägige Produktionen gegen Kritiker zu verteidigen, darunter auch solche, die er selbst kritisch sah. Im Amt des Präsidenten des Goethe-Instituts initiierte er wiederholt interne und öffentliche Diskussionen über aktuelle vergangenheitspolitische Fragen wie den „Historiker-Streit“ 1987. Für seine zahlreichen persönlichen Bemühungen, über den „Eisernen Vorhang“ hinweg die Versöhnung zwischen Ost und West voranzubringen, erhielt er große öffentliche Anerkennung und mehrere Auszeichnungen.

Weitaus schwerer tat sich Klaus von Bismarck dagegen mit der Aufarbeitung der Geschichte der Wehrmacht. Er hatte schon in jungen Jahren ein zuvor in Preußen und im Deutschen Kaiserreich etabliertes Soldatenethos verinnerlicht, dass ihn im Zweiten Weltkrieg nach eigener Aussage in das Dilemma brachte, zu wählen „zwischen entweder der Schuld, als Offizier in einer Führungsposition noch weiter zu machen, obwohl man inzwischen wusste, wie viel faul in diesem Staate war. Und andererseits der Schuld, die einem anvertrauten Soldaten im Stich zu lassen“. Vor diesem Hintergrund widersprach auch er nicht der lange Zeit verbreiteten Auffassung, die Wehrmacht wäre trotz mancher berechtigter Kritik im Prinzip „sauber“ geblieben. Vielmehr verteidigte er etwa in den 1970er Jahren sogar noch SS-Einheiten mit dem Hinweis, sie hätten in der Wehrmacht oft „tapfer“ gekämpft.

Allerdings begann Klaus von Bismarck mit der Reflexion über das eigene, wie er es nannte, „pflichtbewusste“ Tun als „soldatisches Instrument in Hitlers Armee“ spätestens während einer mehrwöchigen Gefangenschaft in einem britischen Lager bei Eutin, in welches er kurz nach Kriegsende am 8. Mai 1945 gekommen war. In emotionaler Aufgewühltheit zwischen „Trauer und Erleichterung“ habe er dort angefangen, sich prüfende Fragen über das vorangegangen Verhalten in der Wehrmacht zu stellen, schrieb er 1946 ehemaligen Kameraden. Befriedigende Antworten fand Klaus von Bismarck auch nach eigener Aussage zu diesem Zeitpunkt noch nicht. In der Folgezeit artikulierte oder unterstützte er einschlägige Kritik und setzte sich immer wieder mit deren ganz persönlicher Dimension auseinander. Besonders als Leiter des Jugendhofs Vlotho und im Rahmen seines vielfältigen Engagements für die Evangelische Kirche führte er dieses selbstkritische Fragen fort.

Erkenntnisfördernde Antworten fand und äußerte er schrittweise. Einen für ihn folgenreichen „Schock“ erlebte er im Rahmen einer Reise 1986 nach Minsk. Dort eröffnete er eine Ausstellung des von der Hamburger Körber-Stiftung betreuten Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten über den „Alltag im Nationalsozialismus“. Auf eigenen Wunsch ermöglichten ihm die Gastgeber den Besuch der 50 Kilometer entfernten Gedenkstätte Chatyn. Dort wurde er mit Dokumenten über Kriegsverbrechen der Wehrmacht konfrontiert. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland ließ er zentrale Behauptungen der Chatyner Ausstellung von Experten überprüfen. Als diese ihm die Korrektheit der sowjetischen Ergebnisse bestätigten, verschärfte Klaus von Bismarck seine Kritik an der Wehrmacht und am eigenen Verhalten als Offizier.

In seiner Rede zur Eröffnung der heftig umstrittenen ersten Fassung der „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung am 16. März 1995 in der Kampnagelfabrik in Hamburg stellte Klaus von Bismarck schließlich das frühere deutsche Soldatenethos, dem auch er gefolgt war, umfassend infrage. In begleitenden Interviews breitete er das ganze Ausmaß der persönlichen Erschütterung durch diesen Erkenntnisschritt aus: Er fände inzwischen überhaupt keine Legitimation für das damalige Töten mehr.

Sein selbstkritisches Fragen hörte damit nicht auf. So ließ er in den Interviews an manchen Stellen durchschimmern, dass er weitere Gründe für sein damaliges Verhalten ausmachte: Trotz seiner frühen Kritik an der nationalsozialistischen Politik habe ihn neben dem Pflichtbewusstsein wohl auch seine Begeisterung für das soldatische Handwerk und die vielfache Bestätigung, die er als Offizier erfuhr, zum zitierten verlässlichen „soldatischen Instrument“ werden lassen und damit zum de facto loyalen Verhalten gegenüber der Hitler-Regierung gebracht. Die Frage der eigenen Manipulierbarkeit, die ihn bereits in Vlotho stark beschäftigt hatte, trieb ihn erneut um. Doch bevor er sich mit diesen Motiven und Prägungen wieder intensiver auseinandersetzen konnte, starb er 1997.

Ruth-Alices Folgerungen als Christin

Lange Jahre blieb Ruth-Alice von Bismarck in der öffentlichen Wahrnehmung im Schatten ihres prominenten Mannes. Als achtfache Mutter hatte sie auch wenig Chancen, dies zu ändern. So konzentrierte sich ihr anfängliches Engagement am Neuaufbau nach 1945 auf die unmittelbare   Umgebung. In die überschaubare Villigster Hausgemeinschaft, in der, wie sich bald herausstellte, jedes Mitglied eine sehr individuelle Geschichte aus der NS-Zeit zu erzählen hatte, brachte sie sich aktiv ein. In diesem geschützten Raum setzte Ruth-Alice sich im Sinn einer Mitverantwortung als Deutsche besonders mit den Themen „Schuld“ und „Vergebung durch Gott“ auseinander. Neben einer im Alltag praktizierten Ökumene begann sie eine dauerhafte Beschäftigung mit den theologischen Innovationen Dietrich Bonhoeffers. Darüber hinaus wurden schon damals emanzipatorische Ansätze im Sinn einer Gleichberechtigung von Mann und Frau in ihren überwiegend christlich motivierten Initiativen erkennbar.

Nach dem Umzug nach Köln und mit dem Größerwerden der Kinder änderte sich das Engagement von Ruth-Alice von Bismarck. Mit Artikeln in DIE ZEIT und dem Naugarder Heimatbrief über die erste Reise seit Kriegsende in die frühere Heimat nach Polen, die sie im März 1964 als Begleiterin ihres Mannes miterlebt hatte, meldete sie sich erstmals öffentlich zu Wort. In den Beiträgen machte sie deutlich, dass für sie 1945 die frühere „christliche Ordnung“ untergegangen und die Heimat als materieller Besitz verloren gegangen sei. Letzteres verarbeitete sie offenkundig mit der Einstellung, dass das Gegebene, das Gut, das Land nur ein Lehen sei, das Gott einem verleihe. Er habe das Lehen nach dem Krieg eben in andere Hände übergeben. Aus ihren Ausführungen wird klar, dass sie die Entscheidung ihres Mannes von 1954, auf frühere Besitztümer in Polen dauerhaft keinen Anspruch mehr zu erheben, mittrug. Wie ihr Mann argumentierte sie, dass Rückforderung unausweichlich Krieg bedeute, was eine Option sei, die sie als Christin ablehne. Vielmehr gehe es jetzt um eine „Bejahung des Daseins“ und darum, ihre Aufgaben „in der Welt als Mensch zu erfüllen“. Das Erlebte sei „wach zu betrachten und [es sei] nicht zu versuchen, rückwärts gewendete Ideale und Empfindungen zu pflegen“. Die notwendige „neue christliche Ordnung“ könne auch an anderen Orten und in anderen menschlichen Zusammenhängen gelebt werden.

Praktische Konsequenzen aus diesen Einsichten zog Ruth-Alice von Bismarck wenig später mit einer in kirchlichem Rahmen gestarteten Initiative, „Gastarbeiter“ und ihre Familien in Köln besser in die heimische Gesellschaft zu integrieren. Daraus erwuchs ein breites Spektrum an internationalen und interkonfessionellen Kontakten, die teilweise bis zu ihrem Lebensende vital blieben. Parallel widmete sie sich in Arbeitskreisen der Aussöhnung mit Israel. Persönliche Freundschaften mit Jüdinnen und Juden, Reisen mit Enkeln nach Israel, um ihnen Land und Geschichte nahezubringen, folgten später.

Nach dem Umzug nach München 1978 überschritt Ruth-Alice von Bismarck immer mehr den kirchlichen Rahmen, ohne ihn jedoch als Basis zu verlassen. Ihre lokalen Initiativen widmeten sich dabei aktuellen politischen Fragen wie dem Umweltschutz. Anders als ihr Mann formulierte sie keine dezidiert politischen Einsichten als Lehre aus der deutschen NS-Vergangenheit. Ihre Konsequenzen fokussierten aber einen neuen christlichen Handlungsrahmen, der bei ihr selbst zur persönlichen Umorientierung führte und auf dieser Basis wiederholt praktische politische Dimensionen gewann.

Zuweilen kam sie zu radikaleren politischen Folgerungen als ihr Mann, etwa als sie Mitte der 1980er Jahre gemeinsam mit anderen Christen die Kündigung der Konten der Evangelischen Kirche bei der Deutschen Bank forderte, da deren Engagement in Südafrika als nicht tolerierbare Unterstützung des dortigen Apartheid-Regimes zu werten sei. „Der gemeinsame Auftritt mit ihr im öffentlichen Wechselgespräch im Forum ‚Wer Unrecht sät, erntet Widerstand‘, dem ‚Südafrikatag‘ am Deutschen Evangelischen Kirchentag am 7. Juni 1985 in Düsseldorf, ist nur eine der vielen weiteren Gelegenheiten gewesen, bei denen geschwisterliche Verbundenheit und ihr solidarisches Handeln konkret erlebbar werden konnten“, so erinnerte sich 2017 Ben Khumalo-Seegelken. Er hatte Ruth-Alice von Bismarck 1974 im Rahmen einer Studienreise durch Westdeutschland und West-Berlin kennengelernt. Gemeinsam mit einem Kollegen besuchte er dabei Projekte außerschulischer Jugendarbeit. Ruth-Alice von Bismarck leitete damals den Ökumenischen Kreis, der die Studienreise organisierte und finanzierte. Zudem vermittelte sie ihnen Begegnungen unter anderem mit in und um Köln lebenden Exil-Südafrikanern und -Südafrikanerinnen vom African National Congress [ANC] sowie mit Aktivistinnen und Aktivisten aus der damals noch in Gründung befindlichen Anti-Apartheid-Bewegung in Deutschland [AAB]. Im Frühjahr 1975 besuchte sie Khumalo-Seegelken im Ökumenischen Zentrum in Edendale/Südafrika. Im gleichen Jahr musste er im Widerstand gegen das Apartheid-Regime Südafrika verlassen, vier Jahre später erhielt er in Deutschland politisches Asyl.

Ohne dies verbal oder schriftlich näher auszuführen, verdeutlichte Ruth-Alice von Bismarck durch fortdauernd einschlägiges Handeln, dass sie wie ihr Mann den Mut hatte, zu ihrer Mitverantwortung als Deutsche für die NS-Vergangenheit zu stehen und sichtbare Konsequenzen aus erkannten Irrtümern und Versäumnissen zu ziehen. Dabei bewegte sie zunehmend die Frage „Wie kann man lernen, sich an der Zukunft zu orientieren?“ Antworten formulierte sie vor allem durch ein vielfältiges soziales Engagement, zuletzt etwa als Mit-Initiatorin der BürgerStiftung Hamburg und zahlreicher Aktivitäten in ihrer Seniorengemeinschaft in der evangelischen Stiftung Anscharhöhe in Hamburg. Gemäß ihrer christlich-kirchlichen Prägung forderte und lebte sie weitreichende interreligiöse Toleranz sowie Offenheit für und Respekt gegenüber Andersdenkenden. Für ihre Angehörigen und für Weggefährtinnen und -gefährten blieb Ruth-Alice von Bismarck so bis zu ihrem Tod 2013 ein stets herausfordernd-anregendes Gegenüber.
Autoren: Christine Schatz und Josef Schmid

Literaturhinweis: Josef Schmid: „Wir haben auf einer Insel des Selbstbetruges gelebt“. Klaus von Bismarcks Weg vom Dienst in der Wehrmacht zur Eröffnung der ‚Wehrmachtsausstellung‘ 1995 in Hamburg, in: Jennifer Wasmuth (Hrsg.), Zwischen Fremd- und Feindbildern. Interdisziplinäre Beiträge zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (Fremde Nähe – Beiträge zur interdisziplinären Diskussion, Bd. 16), Münster u.a. 2000, S. 33-49.