Köln 1961-1976: Die Villigster Jahre beschrieb Ruth-Alice von Bismarck als die Zeit, die ihr Leben und das ihres Mannes am tiefsten und entscheidendsten geprägt habe. Mit dem Wechsel nach Köln eröffneten sich für alle Familienmitglieder jedoch ganz neue Perspektiven des familiären, sozialen und beruflichen Lebens. Ruth-Alice von Bismarck setzte in den Kölner Jahren erstmals eigene öffentliche Akzente in gesellschaftspolitischen Fragen.
Mit dem Einzug in ein modernes Haus im Kölner großbürgerlichen Villenviertel Marienburg lebte die Familie von da an als Großfamilie repräsentativ. Für Ruth-Alice begann aber auch eine neue Phase des Familienlebens mit den heranwachsenden beziehungsweise inzwischen auch schon erwachsen gewordenen Kindern in den politisch turbulenten 1960er und 1970er Jahren. Wie in Villigst engagierte sich Ruth-Alice in Köln wieder im kirchlichen Bereich. Sie traf als Mitglied der Gemeinde der Reformationskirche in der Goethestraße allerdings auf ein anderes Verständnis vom Verhältnis zwischen Gemeinde und Pfarrer, womit sie sich erst einmal auseinandersetzen musste.
Gesellschaftliches Engagement
Als ihr wichtigstes Engagement sah sie ihren Einsatz für die sogenannten Gastarbeiter. Früher als die meisten Deutschen beschäftigten sie die Arbeitsmigranten aus Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, die seit den 1950er Jahren im Rheinland vor allem in der Industrie arbeiteten. Dabei kam sie auf den Gedanken, ein „Gastarbeiterweihnachten“ zu organisieren und dieses Ziel mit Hartnäckigkeit zu verfolgen. Die Kontakte zu den Kölner „Gastarbeitern“ führte Ruth-Alice auch zum Freundeskreis Philoxenia und regte zur Beschäftigung mit der orthodoxen Kirche Griechenlands an. Eine der Tagungen des Freundeskreises fand auf Kreta, im Geburtsort von Bischof Irinäus statt, mit dem Ruth-Alice freundschaftlich verbunden war.
Ein weiteres gesellschaftliches Anliegen, das unmittelbar mit dem Arbeitsmigranten und ihren Familien zusammenhing, war für sie die Integration der Kinder in den deutschen Schulalltag. Als stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises für Partnerschaft und Integration „Europa in Köln“ betonte sie vor allem die Chancen und den Gewinn im Zusammenleben mit Ausländern und die Möglichkeiten der Bereicherung des Schulunterrichts durch deren Kinder. Auch zu anderen Fragen war Ruth-Alice als Interviewpartnerin gefragt, so zum Beispiel zum Thema „Muttertag“.
Für die sozialen Kontakte im Wohnviertel Marienburg sorgten vor allem die jüngeren Kinder, was dazu führte, dass Ruth-Alice eine Jugendgruppe initiierte: „In Köln fing alles mit einer Gruppe von Kindern an. Frieder und Chrischi waren die einzigen Kinder, die mir erlaubten ihr Leben zu teilen und mitzugestalten. Zusammen mit anderen Müttern, die gleichaltrige Kinder hatten, konnte ich also eine Jugendgruppe aufbauen. Die Kinder spielten zusammen Theater und sangen. So konnten sie in ihrer Pubertätsphase als glückliche Gemeinschaft miteinander leben.“
Diskussion um die „verlorene Heimat“
Auf ihre Weise beteiligte sie sich an der öffentlichen Auseinandersetzung um die „verlorene Heimat“. Bereits auf dem 6. Evangelischen Kirchentag in Leipzig 1954 hatte ihr Mann erklärt, „dass wir vor Gott kein Recht darauf haben, das wieder zu erhalten, was er uns genommen hat“. Bei den Vertriebenenverbänden, „die damals in der Blüte ihres innenpolitischen Einflusses standen“ (J. Schmid), rief diese Aussage heftigste Entrüstung und Kritik hervor. Solche bekam auch Ruth-Alice zu spüren, nachdem sie in der ZEIT vom 4. September 1964 über ihre Eindrücke auf einer Fahrt durch Pommern berichtete. Der Bericht erschien auch im Naugarder Heimatbrief 1964. Entrüstung und Beschimpfung, Gegenreden und Anwürfe folgten auch auf einen Vortrag, den sie 1966 in der Evangelischen Akademie Hamburg hielt. Einiges davon aus der Ostpreußen Zeitung und dem Ostpreußenblatt hat sie aufbewahrt. Öffentlich zu sagen, dass sie auf ihre Heimat verzichten wolle, wenn dadurch andere (die inzwischen ansässigen Polen) vertrieben würden, war zu dieser Zeit ohne massive Wiederrede nicht möglich und erforderte einigen Mut. Aber es gab auch Zustimmung, die ihr in sehr persönlich gehaltenen Briefen versichert wurde.
Als ihr Mann 1977 zur Übernahme einer neuen beruflichen Aufgabe nach München zog, blieb Ruth-Alice noch eine Zeitlang in Köln wohnen. Es kam damals zu neuerlichen Wendepunkten in ihrem Leben: Mit dem Tod von Dane verlor sie eine langjährige Begleiterin und Unterstützerin in fast allen Bereichen des familiären Lebens. Und sie nahm zum ersten Mal an einer deutsch-jüdischen Bibelwoche teil. Die Auseinandersetzung mit dem Judentum und Israel sowie Reisen ins „Land der Bibel“ sollten in den folgenden Jahren in München zu einem festen Bestandteil ihres Lebens werden.
Die Aussagen von Ruth-Alice von Bismarck entstammen einem Interview mit Dr. Josef Schmid vom 6. November 2005. Redaktionelle Bearbeitung Christine Schatz.