Prägungen durch die Villigster Gemeinschaft

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Klaus von Bismarck jun.: Mit dem Umzug unserer Familie 1949 nach Haus Villigst bei Schwerte an der Ruhr endete für uns nicht nur die Nachkriegszeit als Flüchtlinge auf dem Gutshof der Verwandten von Laer, sondern es begann ein neues, eigenes Familienleben in einem Seitenhaus der Gesamtanlage von Haus Villigst. Das Anwesen beherbergte verschiedene Institutionen der nordrheinwestfälischen Kirche wie das Studienwerk, das Sozialamt sowie ein Jugendlehrlingsheim und das Katechetische Amt. Fünf von uns Kindern waren bereits geboren, und es sollten in der Villigster Zeit bis 1961 noch drei dazu kommen.

Wir Kinder, aber sicherlich auch die Eltern genossen dieses neue, eigene Zuhause, auch wenn wir Kinder anfänglich noch zu fünft in einem Zimmer schliefen. Wir lebten eingebettet in dieser bunten und interessanten christlich ausgerichteten Hausgemeinschaft, die nicht so ganz anders war, als die große pommersche Gutsgemeinschaft, deren Bilder wir aus Erzählungen der Eltern vor uns sahen. Alle Gruppen hatten ihre besonderen Bereiche und Eigenständigkeiten. Man lebte jedoch auch ein gemeinsames Leben.

Erst langsam erweiterten wir Kinder unsere Kontakte in die nahegelegene Dorfgemeinschaft und die drei Kilometer entfernte Kleinstadt Schwerte. Erweitert wurde unsere Familiengemeinschaft bald durch immer wieder wechselnde Haustöchter, die neben Dane unser Leben organisierten.

Obwohl wir im Vergleich zu den Freunden im Dorf sehr bescheiden lebten, fühlten wir uns gestärkt und selbstbewusst durch eine sehr besondere Familienkultur, die unsere Mutter nahezu eins zu eins aus den Mustern ihres Aufwachsens übernommen hatte. Die Strukturierung des Tages durch Morgenandacht und Abendandacht, sowie gemeinsame Mahlzeiten und Haushaltsverpflichtungen jedes einzelnen.

Wir waren ein wenig stolz zu dieser Villigster Gemeinschaft zu gehören, die uns Erfahrungen machen ließ, die im Umfeld so nicht zu finden waren. Vor allem die halbjährlich wechselnden Werkstudenten, die nach ihrer harten täglichen Arbeit in Ruhrbetrieben als Ausgleich viel Musik und Theater organisierten und originelle Feste feierten, zogen uns Kinder in ihren Bann. Auch sezierten Biologiestudenten mit uns Frösche – wir größeren verliebten uns in die Schauspielerinnen bei der Aufführung von Thornton Wilder „Unsere kleine Stadt“ – und die Geschichten von der Arbeit am Hochofen in Dortmund prägten unsere Vorstellung von körperlicher industrieller Arbeit, ohne dass wir damals je selbst einen solchen Betrieb gesehen hätten. Eine Ausnahme machte nur unser Bruder Gottfried, der ein dreimonatiges Praktikum bei der Dortmund-Hörder Hüttenunion (heute Teil des ThyssenKrupp-Konzerns) absolvierte.

Die Heimkehr von Gottfried „Gorri“ von Bismarck aus der Kriegsgefangenschaft 1955, Titelblatt einer Zeitschrift
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Diese Eindrücke wurden vertieft durch Gespräche mit Untertage arbeitenden Steigern, die häufiger in Villigst waren und unseren Horizont über das Leben außerhalb dieser christlichen Villigster Insel erweiterten. Den ersten dienstlichen Fernseher für die ganze Hausgemeinschaft gab es erst Mitte der fünfziger Jahre durch die Gremienfunktion des Vaters beim NWDR.

Das Villigster Leben erwartete von allen Eigen- und Mitgestaltung und war sehr wenig berührt vom wachsenden, auf Konsum ausgerichteten Wirtschaftswunder der Gesellschaft im weiteren Umfeld.

Wir Kinder engagierten uns im Aufbau der Sektion der christlichen Pfadfinderschaft in Villigst, bauten im Park des Hauses ein Pfadfinderheim und waren, zur Freude unserer Eltern, jedes Wochenende auf Fahrten oder Treffen.

Aber es gab auch Bezüge zum verlorenen Leben vor dem Kriege. Wir schlachteten mit Hilfe eines in Villigst gestrandeten ostpreußischen Bauern, Herrn Frey, ein Familienschwein pro Jahr, welches die über zehnköpfige Familienrunde „fleischlich“ über das Jahr brachte. Auch wurden alle die im Westen lebenden alten Gutsmitarbeiter (Kniephof und Jarchlin) inklusive deren Kinder und Enkel alle paar Jahre nach Villigst eingeladen zum sogenannten „Leutetreffen“ – ein unserer Großmutter Mumam sehr am Herzen liegendes Projekt. Dies half uns Kindern, aus den Erzählungen ein mehr plastisches Bild der alten Heimat zu gewinnen.

Das Leben in der sich ständig entwickelnden Villigster Gemeinschaft öffnete für unsere Eltern wie für uns viele neue Sichten und erleichterte Aufbrüche in noch unbekannte Bereiche. Der Vater schreibt in seinem Buch „Aufbruch aus Pommern“: „Wir waren wie ein zusammengewehter Haufen Blätter. Menschen, die der Krieg übriggelassen hatte, Entwurzelte, Verletzte, Schuldige …  Normalerweise hätte sich kaum einer von ihnen für eine kirchliche Arbeit interessiert. Viele fanden wie ich den Entschluß, weil sie etwas Gravierendes erlebt hatten, und neu anfangen wollten. Es war kein konfliktfreies Leben, das wir führten. Aber nun war uns eine gemeinsame Aufgabe anvertraut für die Menschen, die ins Haus kamen. So wurde für viele von uns die Kapelle zum Mittelpunkt, zum Herzen des Hauses. Hier konnten wir die persönliche und geschichtliche Vergangenheit abladen. Hier erneuerte sich die Gemeinschaft.“ Wie ernst es Vater Klaus mit der Erneuerung war, bekamen wir Kinder etwa zu spüren, als wir kurz zuvor mit Begeisterung in Empfang genommenes Kriegsspielzeug in einem feierlichen Akt in der Ruhr versenken mussten – Vater Klaus wollte damit bewusst machen, dass Krieg kein Spiel ist.

Dieses offene, dynamische und von gesellschaftlicher Verantwortung geprägte christliche Verständnis hat unser Bewusstsein als Kinder stark mitgeprägt und in unseren Leben begleitet. Auch gab uns die Villigster Erfahrung Kraft, uns dann ab 1961 in Köln in einem sehr anderen Lebensumfeld zu bewähren.

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Bertha Volck „Dane“ und die Kinder
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