„Ein gewaltig konzentriertes Lebensgefühl“

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Haus Villigst 1949-1961: Für Ruth Alice von Bismarck bedeutete der Umzug nach Haus Villigst bei Schwerte an der Ruhr die Beendigung der Flüchtlingsexistenz und der Wochenendbeziehung mit ihrem Mann Klaus. Erstmals wohnte die Familie zusammen unter einem Dach. Sie vergrößerte sich um zwei weitere Söhne und eine Tochter. Trotz wachsender Familienaufgaben erweiterte Ruth-Alice ihren Interessens- und Handlungsspielraum außerhalb familiärer Aufgaben. Für Klaus von Bismarck begann mit dem Aufbau des „Sozialamts“ der Evangelischen Kirche in Villigst ein neuer beruflicher Lebensabschnitt, der ihm und Ruth-Alice auch die ersten großen Auslandsreisen brachte.

„Villigst“ wurde für die Familie zur vielstimmigen und inspirierenden Heimat. In einer bisher unbekannten Art und Weise lebte sie dort mit Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft, Erziehung und gegensätzlichen Ansichten zusammen. Die Villigster Lebensgemeinschaft auf Zeit stellte das Familienleben der Bismarcks in einen größeren sozialen, kirchlichen und politischen Zusammenhang, als es Ruth-Alice bisher von den Gütern Pätzig und Kniephof/Jarchlin kannte. Von ihr als eine „Lebens- und Glaubens- und Verarbeitungsgemeinschaft“ charakterisiert, entwickelte die auf Freiwilligkeit basierende Glaubensgemeinschaft eine eigene, einfache Liturgie für die gemeinsamen Andachten. In dieser Gemeinschaft lernte Ruth-Alice gleichermaßen behutsam wie intensiv nach der deutschen, kirchlichen und persönlichen „Schuld“ im Nationalsozialismus zu fragen. „In einem kleinen Kreis ging es um die Schuld des Nationalsozialismus. […] In Villigst war die wichtigste Erfahrung, dass wir einen Zugang zur Vergebung Gottes fanden“, erinnerte sich Ruth-Alice von Bismarck.

Im Kornspeicher zu Hause

Eine gemeinsame Wohnung fand die Familie, die mit Dane [Bertha Volck] und ein oder zwei Haustöchtern (Hausangestellten) schließlich bis zu 13 Personen zählte, in einem umgebauten Kornspeicher. Die Möbel stammten aus dem aufgelösten Michaelshaus aus Hamburg (Berneuchener Bewegung): „Eisenbetten, buntgestrichene Militärschränke, schauderhafte Elefantensessel“, so beschrieb Ruth-Alice von Bismarck später die erste Einrichtung. Ihr zufolge „begann ein eigenes Zuhause in einer großen Hausgemeinschaft zu wachsen“. Ein „Konto-Buch“ dokumentiert die eher bescheidenen Lebenshaltungskosten der großen Familie.

In den Villigster Jahren wurden die Söhne Christian, 1950, Thomas, 1952, und die Tochter Maria, 1959, geboren. Haustöchter unterstützen Ruth-Alice und Dane in der Kinderbetreuung und im Haushalt. In der Villigster Zeit unternahm die Familie auch erste Ferienreisen, zum Beispiel an den Chiemsee, und hielt die Reiseerlebnisse in einem Reisetagebuch fest.

Soziales und religiöses Leben

Die Kapelle in Haus Villigst
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Das soziale Leben, wozu auch gemeinsame Feiern, die Ruth-Alice sehr am Herzen lagen, und Theateraufführungen gehörten, gestalteten die Werkstudenten ‒ unter ihnen auch einige wenige Studentinnen (1951: 4 von 41) ‒ mit. Sie alle trugen dazu bei, dass „ein gewaltig konzentriertes Lebensgefühl“ (Ruth-Alice) entstehen konnte.

Die Kapelle im Keller des Haupthauses war der Ort der Ruhe in dem umtriebigen täglichen Leben. Dort fanden die täglichen Abendandachten statt, die abwechselnd von den Leitern und den Werkstudenten gehalten wurden. Auch Klaus von Bismarck beteiligte sich daran, sein Tag war der Freitag. Von ihm sind über hundert handschriftliche Anmerkungen und Notizen im Familienarchiv erhalten. Die Andachten entwickelten sich zu einem gemeinsamen Element des Zusammenlebens. Dazu gehörte auch das Krippenspiel zu Weihnachten, bei dem das Ehepaar von Bismarck zweimal die Rollen von Maria und Josef übernahm.

Grenzen überschreiten

Bei der Erprobung neuer Lebens- und Wohnformen in Villigst ‒ für die 1950er Jahre und rund anderthalb Jahrzehnte vor „68“ eher ungewöhnlich ‒ mussten sich die Frauen in der „Männerdomäne“ Haus Villigst (Ruth-Alice) allerdings auch Gehör und Mitsprache erkämpfen. Ruth-Alice erinnerte sich, dass Frauen in Villigst eher als „Versöhnungselemente“ gesehen wurden und bei den Andachten „nicht gefragt“ waren, „hier hatten die leitenden Männer und die Studenten das Wort“. Und weiter: „Ich wollte beim Sozialamt auch eine Bibelstunde einrichten, das hat aber nicht funktioniert. Immer kam man an seine Grenzen“. Also suchten die (Ehe-)Frauen nach Wegen der Beteiligung an religiöser Unterrichtung, bei den Andachten und aktiver Teilnahme an theologischen Fragen. Erst mit der Bildung der „Seelenbinderstunde“ zusammen mit Vikarin Gertrud Grimme konnten sich die Frauen in und mit theologischen Gesprächen Stimme und Gehör verschaffen. Aus der „Seelenbinderstunde“ ging später die Leitungsbibelstunde hervor. In ihr sollten die Männer „geistliche Bildung schöpfen“ können (Ruth-Alice), denn nach Ansicht der Ehefrauen mangelte es ihren Männern an theologischer Bildung. Die gemeinsame „Frühstücksbibelstunde“ der Familien sorgte für leibliche und geistliche Nahrung vor der anstrengenden Tagesarbeit.

In der Begegnung mit Vikarin Gertrud Grimme fand Ruth-Alice von Bismarck Zugang zum Alten Testament. Sie erlebte die Vikarin als eine der ersten selbstständigen Theologinnen in einer einsamen Position.

Für Ruth Alice wuchs in Villigst „eine kreative Erneuerung des Glaubens, von der eine ganz starke prägende Kraft ausging. Hier war das Zentrum, aus dem unsere Familie lebt. Zum Zeichen hängt noch heute dort unser Kruzifix.“ Die zeitweilige Teilnahme dreier Brüder aus Taizé (Marc, Adrien und Yan) an den Gottesdiensten setzte neue Akzente und bereicherte die Bibelarbeit der Frauen.

1954 reiste Klaus von Bismarck als Mitglied der Ökumenischen Delegation zur Weltkirchenkonferenz in Evanston, seine Frau begleitete ihn. Auch für Ruth-Alice war es die erste Reise in die USA.

 

Die Zitate entstammen einem Interview, das Dr. Josef Schmid mit Ruth-Alice von Bismarck am 30. Januar 2006 geführt hat. Redaktionelle Bearbeitung Christine Schatz.

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Haus Villigst an der Ruhr
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