Eine innere Heimat im Glauben finden

Slider

 

Hamburg 1995-2013: Auch im fortgeschrittenen Alter wechselte Ruth-Alice mehrmals ihre Wohnung, fortan jedoch nur noch innerhalb ihrer neuen Wahlheimat Hamburg. Dort betätigte sie sich weiterhin als „Anstifterin“ für soziales und politisches Engagement und war an vielen anderen Stellen privat und öffentlich aktiv.

Festakt der BürgerStiftung Hamburg am 27. September 2004, bei dem Ruth-Alice von Bismarck für ihr Engagement geehrt wurde
Slider

Ein Vortrag im privaten Rahmen von Professor Christian Pfeiffer über die Bürgerstiftung Niedersachsen 1997 inspirierte Ruth-Alice von Bismarck dazu, in Hamburg ebenfalls eine solche Bürgerstiftung anzuregen. Rasch fand sich ein Kreis von etwa 20 Personen, die die Initiative vorantrieben und überregionale Kontakte knüpften. Unter Federführung des Notars a.D. und späteren Ersten Vorstandssprechers Dr. Klaus Rollin und seiner Frau gelang 1999 die Gründung der BürgerStiftung Hamburg.

Parallel organisierte Ruth-Alice eine ökumenische Begleitung der umstrittenen sogenannten Wehrmachtsausstellung mit, die 1999 in Hamburg ein zweites Mal gezeigt wurde. Zum Programm gehörten Vorträge und Diskussionsrunden sowie die psychologisch-seelsorgliche Begleitung von Ausstellungsbesuchern durch eigens dafür angeworbene, fachlich versierte Mitstreiter. Vor allem Kinder und Enkel, die unter dem Schweigen ihrer Väter und Großväter über die Zeit in der Wehrmacht sehr gelitten hatten, nahmen dieses Angebot an. Beide großen christlichen Kirchen trugen die private Initiative aktiv mit.

Immer wieder unterstützte Ruth-Alice von Bismarck Familienangehörige bei öffentlichen Auftritten. Als beispielsweise ihre Schwester Werburg Doerr 2003 ihre Erinnerungen an die Kindheit in Pommern veröffentlichte, begleitete Ruth-Alice sie zu Lesungen.

Nach dem Tod ihre Ehemannes 1997 wohnte Ruth-Alice zunächst weiter in der Wohnung Jungfrauenthal. Sie vermietete Zimmer an Studierende der Musikhochschule unter der Maßgabe, sich für ein Konzert pro Woche zu verpflichten. Obwohl nachlassende Kräfte eine Beschränkung auf weniger Wohnraum forderten, nahm sich Ruth-Alice in ihrem Engagement nicht zurück. Es verkleinerten sich zwar der unmittelbare Lebensraum, nicht aber ihre Interessensgebiete. Sie blieb kritisch gegenüber allem, was in ihrer Umgebung geschah, auch nach dem Umzug 1999 in ein Appartement im Haus Emilienstift, das zur evangelischen Stiftung Anscharhöhe gehört, und schließlich, nach einer schweren Erkrankung und anschließender Genesung in ein Ein-Zimmer-Appartement im Carl-Ninck-Haus. Trotz zunehmender gesundheitlicher Beeinträchtigungen blieb sie weiterhin eine geschätzte Gesprächspartnerin für zahlreiche Menschen, die sie in ihrem Apartment besuchten und Briefpartnerin für alle, die nicht nach Hamburg reisen konnten.

Eine unbequeme kritische Stimme

Regelmäßig arbeitete sie im Heimbeirat auf der Anscharhöhe mit, und sie zeigte ein ungebrochenes Interesse an anderen Menschen, an deren Leben und Tätigkeiten. Sie schrieb Beiträge unter der Rubrik „Wussten Sie schon …?“ für die Hauszeitung Hier und Heute und für die Festschrift der Anscharhöhe zu deren 125-jährigen Bestehen 2011. Sie kommentierte dabei schon mal ironisch die Haltung eines Pastors, der „hier in der Anscharhöhe […] uns alte Leute immer abschieben wollte in die Ewigkeit. Aber das glückte ihm nicht!“ Ruth-Alice legte stets den Finger in die Wunde, was sie zu einer unbequemen, aber durchaus geschätzten kritischen Stimme werden ließ. Neue Baumaßnahmen, die Wohnzimmer aus Brandschutzgründen nicht vorsahen, spiegelten für sie den Umgang der Gesellschaft mit alten Menschen wider:

„Gestern hatten wir eine herrliche Sitzung hier im Haus mit einem Mann, der dieses Haus leitet. Männer bauen ja immer so furchtbar gerne und dieser Mann baut ein großes neues Heim mit vielen neuen Zimmern. Es wird so gebaut, wie die Kinder, die ihre Eltern dann in dieses Heim abschieben, weil sie ihre alten Leute bei sich nicht mehr aushalten können, es gerne haben wollen. Die abgeschobenen Alten sollen möglichst viel Luxus haben, damit das schlechte Gewissen der Kinder beruhigt ist. Die Kinder zahlen das Geld und die alten Menschen, die da rein müssen, vereinsamen total. Sie bekommen Einzelzimmer mit Dusche und allem, was man will ‒ nur ein Wohnzimmer kann es nicht geben, denn der Brandschutz erlaubt es nicht, dass hier Sofas stehen! Es gibt also keine wirklichen Gemeinschaftsräume, keine Türen zwischen den Zimmern, es gibt keine Mehrbettzimmer […] dann kommt eine wirkliche Vereinsamung!“

Frauen-Freundschaften

Freundschaften mit Frauen nahmen bei Ruth-Alice einen wichtigen Platz ein, sie gaben ihr Anregung, Unterstützung, Stärkung, Geborgenheit, so auch in den letzten Lebensjahren. Zu engen Vertrauten und Begleiterinnen im Alter zählten Solveig Reiners und Sabine Geest. Sie ermöglichten Ruth-Alice, ihren vielen Aktivitäten auch bei eingeschränkter Beweglichkeit nachzugehen. Denn der Wunsch, soziales Wirken mit religiösem Anliegen zu verbinden, blieb in Ruth-Alice bis zuletzt lebendig. Er trieb sie an, gegen die latente Vereinsamung in Pflegeanstalten etwas zu unternehmen. Ein Singkreis führte sie mit Solveig Reimers zusammen. Als „Seelsorge“ bezeichnete Ruth-Alice das gemeinsame Singen in der Tagesbetreuung und später im Pflegeheim. Gemeinsam erarbeiteten und gestalteten die beiden Frauen Andachten auf den einzelnen Stationen zu bestimmten Tagen, zum Beispiel zum Frauengebetstag oder zum Erntedankfest.

Anknüpfend an ihre Erfahrung in der Friedensbewegung in der Münchner Zeit gründete Ruth-Alice zusammen mit Solveig Reiners einen Friedenskreis nach dem 11. September 2001. Jeden Montag traf sich der Friedensgebetskreis in der Kirche, später im Heim und zuletzt in der Bibliothek. Wieder bereiteten beide Frauen zusammen Texte und Gebete vor. Ruth-Alice unterstützte Frau Reiners auch bei der Einrichtung einer Bibliothek und der Auswahl der Bücher.

Ruth-Alice von Bismarck auf der Terrasse ihrer Wohnung im Jungfrauenthal in Hamburg
Slider

Strenge und Offenheit

Solveig Reiners erinnert daran, dass Ruth-Alice sich auf der Anscharhöhe nicht nur um demente Menschen kümmerte, sondern auch um Sterbende. Sie ging zum Entsetzen und zum Ärger der Hausleitung durch die Außenanlage und pflückte Blumen ‒ nicht für sich selbst, sondern um die Stationen zu damit zu schmücken. Sie habe eine Streitkultur gepflegt, sei aber nie nachtragend gewesen. Strenge und Offenheit hätten sich in ihr verbunden, und zwar eine zunehmende religiöse Strenge bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber den Mitmenschen. Fürsorge, Friedenssehnsucht und die Bibel seien bei Ruth-Alice von Bismarck bis zum Tode bestimmende Orientierungsgrößen geblieben, so Solveig Reiners. Etwa die Aussage in der Bibel, dass Gott die Sünden der Väter an den Kindern bis ins 3. und 4. Glied heimsuche (2. Buch Mose Kap. 20, Verse 5-6), habe sie sehr beschäftigt.

Die verschiedenen Abschnitte des gemeinsamen Lebens wurden durch die Orte und durch die Berufe ihres Mannes bestimmt. Diese Ortswechsel brachten Ruth-Alice und ihren Mann mit außerordentlich vielen Menschen zusammen, von denen sie Unterstützung oder Anregung erhielten, die sie ihrerseits unterstützten und anregten. Am Ende ihres Lebens ließ Ruth-Alice ihr Leben „Revue passieren“, und für sie stand „irgendein Plan Gottes dahinter zu einer gewaltigen Zeitenwende. Es war eine ungeheuerliche Herausforderung. Und diese Herausforderung brachte neue Kräfte hervor. Plötzlich entstand Neues. Und das war immer wieder eine Faszination.“

 

Ruth-Alice von Bismarck in einem Interview mit Dr. Josef Schmid am 8. Dezember 2005 und 16. Februar 2006. Redaktionelle Bearbeitung Christine Schatz. Gespräch mit Frau Solveig Reiners am 11. September 2014. Für die Informationen über die Aktivitäten von Ruth-Alice von Bismarck danke ich Frau Solveig Reiners. C.S.

Bild ist nicht verfügbar
Bild ist nicht verfügbar
Bild ist nicht verfügbar
Arrow
Arrow
85. Geburtstag im Alsterkamp
Slider