Glückliche Kindheit in Gut Oberbehme

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Gottfried von Bismarck: Im Januar 1945 flohen meine Mutter Ruth-Alice, hochschwanger mit meinem Bruder Klaus, gemeinsam mit meinem Bruder Hans (2), Bertha Volck („Dane“), einem Kutscher, zwei Hausangestellten und mir (4) vor der schnell näher rückenden russischen Armee. Unser Ziel war das von Verwandten bewirtschaftete Gut Oberbehme in Westfalen. Bis 1949 bildeten wir dort zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen eine große Gemeinschaft. Uns Kindern eröffnete sich damals ein spannendes Neuland.

Die Reise von unseren Gütern Kniephof und Jarchlin ‒ erst mit einem von zwei Pferden gezogenen Schlitten bis zur Oder, dann auf einem Fuhrwerk ‒ endete für uns nach ca. zwei Wochen unversehrt bei Familie von Laer auf deren Gut Oberbehme bei Herford, von Vater Klaus vorausschauend ausgewählt und vorbereitet.

Die Flucht erinnere ich als unbeschwert von den – mir damals kaum bewussten – Ängsten und Sorgen der Erwachsenen, dem Kriegsschrecken, dem Verlust von Haus und Heimat. Ich fühlte mich in der Gruppe geborgen und erlebte die Flucht als eine aufregende Reise: meist auf dem Kutschbock sitzend, durfte ich manchmal die Zügel führen und wir übernachteten stets an einem anderen Ort bei Verwandten.

Großmutter Ruth von Wedemeyer mit Enkel Ernst
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Das große Gut Oberbehme, eine ehemalige Wasserburg, war als geschlossenes Viereck aus Haupt-, Wirtschafts- und Stallgebäuden um einen großen Innenhof samt Misthaufen und Auslauf für die Schweine gebaut. Das Ensemble umgab ein breiter Schlossgraben und ein weitläufiger Park, und es bot Sicherheit und ideales Abenteuer-Terrain für ca. dreißig Kinder, eine sozial bunt gemischte „Gang“ mehrerer Flüchtlings- und Arbeiterfamilien. Zwei gleichaltrige enge Freunde (Krischan Krüger und Peter Spiegel) und eben diese Gang bildeten bis 1949 einen wichtigen sozialen Horizont, meist distanziert und in Opposition zu den Erwachsenen und deren Welt.

Neben der Gutsbesitzerfamilie von Laer bewohnten mit uns zahlreiche weitere verwandte Flüchtlinge aus dem Osten das Gut: die Familie von Ruth-Alice (u.a. ihre Mutter Ruth sowie ihre Geschwister Hans Werner und Peter Christian) sowie die Familien meiner Freunde. Bestehend aus insgesamt etwa 100 Personen, bot diese vielfältige Gemeinschaft durchaus Geborgenheit, sicher auch für meine vier jüngeren Geschwister; hinzugekommen waren Klaus (1945), Ernst (1947), Friedrich (1948).

Unser Vater war mit der herausfordernden Jugendaufbauarbeit in Vlotho betraut; wir sahen ihn selten. Der Mutter allein fiel die Aufgabe zu, ihre fünf Kinder christlich zu erziehen, allerdings wunderbar unterstützt von Bertha Volck „Dane“. Täglich gab es ein Morgen- und Abendgebet. In einem Interview sagte Ruth-Alice 2005 rückblickend dazu: „Da kehrte ich nochmal als älteste Tochter sehr stark in die Ethik meiner eigenen Aufzucht zurück. Ich wurde nochmal sehr konservativ in meinem Verhalten. Mein Sohn Gottfried sagte uns mal ‚Ihr habt uns anachronistisch erzogen, aber ihr habt erzogen'“.

Die Gemeinschaft mit den Freunden war belebt von spannenden, interessanten Projekten. So errichteten wir bewohnbare Pfahlbauten im Schlossgraben, brieten von in selbstgebauten Fallen gefangene Spatzen oder veranstalteten Wettfahrten auf mit Benzinkanistern gebauten Flößen. Dieser Spaß wurde allerdings jäh und radikal beendet durch die Feststellung der Großmutter von Laer, dass die vom Dachboden entwendeten Floßbretter für ihren Sarg reserviert waren.

Die Gemeinschaft der Dreißig-Kinder-Gang zeigte ein großes Bedürfnis, sich selbst zu bestätigen mit immer neuen Späßen gegenüber den Erwachsenen. In der ersten Zeit waren wir noch nicht in Zimmern untergebracht, sondern lebten in den großen Festräumen auf kleinen, durch Gobelins abgeteilten Wohnfeldern. Infolge der dichten Belegung hatten wir Kinder uns angewöhnt, den Zimmerzugang direkt durch die niedrig liegenden Hoffenster zu nutzen.

Folglich wurde die gesamte Gruppe zu einer Standpauke in den herrschaftlichen Teil einbestellt. Abschließend fragte Tante Maxa von Laer die Gang: „Habt ihr das jetzt alle verstanden und versprecht ihr, es nie wieder zu tun“. Darauf Krischan Krüger:

„Jetzt aber raus hier!“ Und einer nach dem anderen verließ den herrschaftlichen Flur durch ein schnell geöffnetes Fenster. Danach hagelte es Verbote, doch an diese erinnere ich mich nicht.

Klaus und Ruth-Alice von Bismarck vor dem Jugendhof Vlotho, ca. 1947
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Auf dem Hof herrschte strenges Reglement darüber, was erlaubt und unerlaubt war. So fanden die Erwachsenen es in Ordnung, wenn wir das Abstechen und Ausbluten der Schweine ganz aus der Nähe miterlebten, doch wenn der Eber die Sau auf dem Hof deckte, mussten alle Kinder von den Eltern vorher weggesperrt werden, was selten gelang. Schlimmer für die ganze Gemeinschaft war der folgende „Streich“: Nach der Kohlernte wurde deren größter Teil für den Winter eingelagert, in mehreren Räumen des Schlosskellers bis unter die Decken gefüllt. Ich erinnere nicht, was uns hier an Protest geritten hat: Wir warfen mit vereinten Kräften hunderte weißer Kohlköpfe in den stinkenden, abwasserverseuchten Schlossgraben.

Nahrung war für die Gemeinschaft höchstes Gut. Zu essen, wenn auch fast ausschließlich vegetarisch, gab es hinreichend direkt aus der Landwirtschaft. Für die zahlreichen Ratten und Mäuse, durch breite Fugen der Fußbodenbretter oft in der Küche präsent, blieb genug. Ich erinnere weder Hunger noch irgendwelchen Mangel, zumal wir aus Pommern bescheidenes Essen gewohnt waren.

Leuchtende Erinnerungen sind dagegen an kleine Essgenüsse verblieben: Über etwa zwei Jahre befand sich in der Küche ein unserem Vater geschenktes riesiges Holzfass mit Salzheringen, es diente als „Bank“ für externe Geschenke und Tauschgeschäfte. Jede Person besaß im Keller einen eigenen kleinen Butterteller, mit sieben Tagesportionen in Würfelzucker-Format. Niemand wagte zu stehlen. Der Vater von Krischan Krüger durfte einmal im Jahr eine Ente am Schlossteich erlegen, die wurde im Familienkreis mit Freunden verzehrt. Die Fleischstückchen wurden unter etwa acht Personen geteilt ‒ ein unauslöschlicher Genuss für mich. Ebenso wie das erste Stück Apfelsine meines Lebens, von Dane gerecht unter ca. zehn Personen quasi rituell vergeben.

Trotz des Verlustes von Haus und Hof in Pommern war diese Kindheitszeit für mich, wie wohl auch für meine Geschwister, glücklich ‒ und anregender und interessanter, als sie es vielleicht in der Heimat hätte sein können. So hat für mich der aufregende und mit viel Schokolade untermauerte Kontakt zu den britischen Besatzungssoldaten dazu beigetragen, später ordentlich Englisch zu lernen und dann ein meine Vita bereicherndes Stipendium für die USA zu bekommen.

Ich bin meinen Eltern dankbar, dass es dieses breite Umfeld für uns gegeben hat und wir eine uns weitgehend selbst erziehende Gemeinschaft bilden durften. Deren Kehrseite war es sicher, dass wir uns manchmal eine intensivere und individuellere Aufmerksamkeit vonseiten der Erwachsenen gewünscht hätten. Das Prinzip des offenen Hauses in einem vielfältigen sozialen Umfeld setzte sich in unseren nachfolgenden jugendlichen Lebensabschnitten in Villigst und Köln fort.

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Klaus sen. mit Sohn Ernst, ca. 1949
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