Familie

Kirchentag: Ort vielfältiger Inspirationen

Der von Reinold von Thadden-Trieglaff im Juli 1949 in Hannover initiierte Deutsche Evangelische Kirchentag war als ergänzendes Gegenüber zur verfassten Kirche angelegt. Laien und Theologen sollten dort auf der Basis des gemeinsamen Glaubens gleichberechtigt aktuelle Fragen der Welt diskutieren. Ruth-Alice und Klaus von Bismarck gehörten zu den frühen und dauerhaft aktiven Unterstützern der Initiative, wenngleich sie dabei differenzierte Wege gingen und zuweilen unterschiedliche Positionen einnahmen. Bewusste Meinungsvielfalt Kirchliche Leitungen verhielten sich zunächst überwiegend reserviert gegenüber der institutionell unabhängigen Laienbewegung. Pietistische Gruppen kritisierten unter dem Credo „Kein anderes Evangelium“ offen die pluralistische Konzeption. Doch Reinold von Thadden ließ sich davon nicht beirren. Er suchte geeignete Mitstreiter und bat u.a. seinen pommerschen Landsmann Klaus von Bismarck um Mitwirkung. Dieser willigte sofort ein. Gerade der offene, suchende Charakter des Kirchentages, orientiert an der theologischen Neubesinnung der Bekennenden Kirche, überzeugte ihn. Klaus von Bismarck bereitete den Essener Kirchentag 1950 mit vor und übernahm in der Folgezeit an vielen führenden Stellen Verantwortung: zunächst als Mitglied im Präsidialausschuss, von 1955 bis 1995 im Kirchentagspräsidium und 1979 auch als Präsident; ferner als Leiter von Arbeitsgruppen, als Moderator von Diskussionen und als Referent. Angeregt durch sein paralleles Engagement im Weltkirchenrat setzte sich Klaus von Bismarck früh für eine internationale und ökumenische Orientierung des Kirchentages ein. Mitte der 1970er Jahre stagnierten viele ökumenische Bemühungen, besonders zwischen katholischen und evangelischen Kirchenleitungen. In dieser Zeit wandelte sich die protestantische Laieninitiative deutlich vom Zuhör- zum Mitmachkirchentag, wofür der neu eingeführte „Markt der Möglichkeiten“ ein Sinnbild wurde. In der Folge wirkten vermehrt kirchliche Gruppen mit, die sich überwiegend aus gemischtkonfessionellen und oft sogar aus der Kirche kritisch-distanziert gegenüberstehenden Jugendlichen zusammensetzten und politische Ziele verfolgten. Klaus von Bismarck begrüßte sie in einer zeitgenössischen Stellungnahme nicht zuletzt als ökumenisches Korrektiv und lobte die mit ihnen verbundene „wichtige Bluttransfusion“ im Rahmen der seines Erachtens weiterhin notwendigen kirchlichen Erneuerung. Der Kirchentag blieb ein Motor des ökumenischen Dialogs. Ruth-Alice von Bismarck engagierte sich stark an der kirchlichen Basis, wo sie gemeinsam mit Gleichgesinnten neue theologische und darauf aufbauend politische Einsichten zu gewinnen versuchte. Zu einzelnen Fragen formulierte sie dabei später andere Antworten als ihr Mann. Als etwa 1987 die „Frauen gegen Apartheid“ vom Kirchentag forderten, die Konten bei der Deutschen Bank zu kündigen, da diese intensiv mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime kooperiere, unterstützte sie die Initiative, ihr Mann lehnte sie dagegen ab. Ruth-Alice von Bismarck war nach jahrelangen Diskussionen über das Thema in kirchlichen Basisgruppen, zuletzt auf dem Kirchentag 1985 in Düsseldorf, zur Überzeugung gelangt, man müsse endlich ein konkretes Zeichen setzen gegen das Unrecht der Apartheid. Klaus von Bismarck war ebenso wie Richard von Weizsäcker und weitere prominente Präsidiumsmitglieder aus prinzipiellen Erwägungen dagegen, dass der Kirchentag sich dem Druck einer bestimmten Gruppe beugt. Mit ähnlicher Begründung hatte Klaus von Bismarck vor dem Kirchentag 1979 verhindert, dass die umstrittene Theologin Dorothee Sölle wieder ausgeladen wurde. Mit hauchdünner Mehrheit votierte das Präsidium 1987 für die Kündigung der Bankkonten. Später stimmte das Ehepaar überein, dass beide Positionen ihre Berechtigung haben. Neue Wege und Einsichten Der Kirchentag fand von Beginn an großen Zuspruch. Ähnlich wie viele andere Teilnehmer zeigten sich beide Bismarcks 1950 in Essen beeindruckt, dass es der Versammlung gelang, einen hoffnungsvollen Kontrapunkt zur NS-Vergangenheit zu setzen: „Man hatte diese Massenversammlungen“, so Ruth-Alice von Bismarck, „noch von den Nazis in Erinnerung und plötzlich war es genauso. Ein Stadion voller Menschen, aber diesmal eben nicht nationalsozialistisch, sondern christlich. Das war überwältigend, diese Erstlingserlebnisse in einer neuen Freiheit.“ Auch für ihren Gatten Klaus war dies eine bewegende Erfahrung, wie er in seinen Memoiren schildert: „Noch wenige Jahre zuvor waren in diesem Stadion Nazilieder gesungen worden. Der Vergleich, der noch frisch in der...

Mehr

FA T2 Mit Enkeln- und Patenkindern im April 1990 nach Israel

  Ursprünglich schon für 1989 geplant, wurde diese Reise aber aufgrund der kritischen politischen Situation und den bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf das Folgejahr verschoben und fand vom 8. bis zum 20. April 1990 statt. Von Anfang an bezog Ruth-Alice alle Reiseteilnehmer in die Vorbereitungen mit ein und bat sie, sich Themen zur Bearbeitung auszusuchen. Ein Bericht vom Vorbereitungswochenende in Stellichte bei Walsrode Silvester 1988/89 dokumentiert die Breite der Themen, mit denen sich die Israel-Reisenden befassten. Ruth-Alice von Bismarck forderte ein „gewisses Engagement“, damit eine Reise „doppelt so schön“ wird, wie sie in einem Brief an die Teilnehmer schreibt. „Touristenmentalität“ war für sie nicht die Haltung, um „das vielschichtige aller Geheimnisse unserer Kultur zu ergründen“. Trotz aller sorgfältigen Vorbereitung von zu Hause aus wäre die Reise ohne die umsichtige Unterstützung und sachkundige Begleitung durch Ruben Moskovitsch nicht so anregend, informativ, fröhlich, kurz: rundum gelungen gewesen. Die Reise selbst dokumentierten die Teilnehmer und schilderten ihre Eindrücke für je einen Reisetag. So entstanden vielfältige Reiseberichte: am 1. Tag berichtete Livia, am 2. Tag Max, am 3. Tag Esra, am 4. Tag Ines, am 5. Tag Maja, am 6. Tag Anna, den 8. Tag bestritt Großmutter Ruth-Alice, über die Tage 9 und 10 schrieb Friederike und den letzten Tag schilderte Catharina. Das Erlebnis der Besteigung des Mosesberges am 3. Reisetag hielt Ruth-Alice noch einmal fest. Ein Brief an die „Israel-Seminaristen“ im Vorfeld des Seminars in Stellichte macht deutlich, was Ruth-Alice bewegte und welche Hoffnung sie in die junge Generation setzte: „Ich möchte aussprechen, wie dankbar ich bin, dass Ihr ‒ die junge Generation, das Vertrauen aufgebracht hat, zu kommen. Ohne Euch geht es nicht. Überall auf der Welt trägt Eure Generation […] die Konsequenzen unseres Fehlverhaltens ‒ aber leistet auch ihren Beitrag zur Heilung.“ Die „junge Generation“ sind für sie nicht nur die Enkelkinder, sie fast den Begriff viel weiter und bezieht in ihre Hoffnung auch die palästinensischen Kinder ein, „die eine politische Wende einleiten mit ihrem Steine werfen unter Einsatz ihres Lebens. Nicht nur die schwarzen Kinder in Soweto. Sie sehen das Elend ihrer geknechteten und verstummten Eltern. … Nicht nur die Kinder in Brasilien und anderen südamerikanischen Städten, … die kleine Familien bilden, um für sich selber zu sorgen. Ich meine auch die Kinder, die Spannungen zwischen ihren Eltern früh schon aushalten müssen und überwinden helfen müssen. Oder solche, die verwöhnt u. vergöttert wurden und in hartem Kampf sich einstellen müssen auf die Welt wie sie ist.“ Die Zitate stammen aus Briefen an die Reiseteilnehmer. Weiterführende Dokumente: Bericht vom Vorbereitungsseminar in Stellichte zum Jahreswechsel 1988/89; Brief an die Teilnehmer; Übersicht Reiseplan; Tagesberichte von Livia; Max, Esra, Ines, Maja, Anna, Ruth-Alice, Friederike, Catharina;  Besteigung des Mosesberges.   [Bilder sind von der zweiten Enkelkinderreise aus dem Jahre 1998, zudem scanns von Kopien, diese Bilder dienen nur vorübergehend der...

Mehr

Adelige Großfamilien mit Eigensinn und Tradition

  Die Familien von Bismarck und von Wedemeyer gehörten dem ostelbischen Landadel an. Konservative Traditionen prägten Mitglieder beider Familien ebenso wie Brüche mit überkommenen Denk- und Verhaltensweisen. Die jeweiligen Ausgangspositionen und der jeweilige Umgang mit den Veränderungen aber unterschieden sich. In diesem dynamischen Spannungsfeld ihre eigene Rolle, ihre eigene Identität immer wieder neu zu finden, sollte spätestens für die Generation von Ruth-Alice und Klaus von Bismarck eine unausweichliche Aufgabe werden. In der erst 1902 in den Adelsstand erhobenen Familie von Wedemeyer scheint die Tradition einer starken Einheit von „Krone und Altar“ lange prägend gewesen zu sein: „Der Wappenspruch der Familie von Wedemeyer ‚dietat pietas et servata fides‘ – ‚fromm sein und Treue halten‘ stand in besonderer Weise über dem Leben von Hans und Ruth von Wedemeyer“, schreibt Klaus von Bismarck über seine Großeltern. Eine tiefe Treueverpflichtung gegenüber der gewachsenen politischen und gesellschaftlichen Ordnung sei ihnen zu eigen gewesen. Wie schon die Urgroßeltern hätten Hans und Ruth von Wedemeyer im Bewusstsein gelebt, für das anvertraute Land, die Familie und das Gemeinwesen Gott gegenüber in persönlicher Verantwortung zu stehen: „Ruth-Alice war nicht nur die älteste der sieben Kinder, sondern dem Vater auch in besonderer Weise geistig verbunden, der Anfang der 1920er Jahre besonders stark in die ‚Berneuchener Bewegung‘ hineingezogen wurde, die sich als eine liturgische Erneuerungsbewegung der Kirche verstand. Die Berneuchener wollten eine Haltung einüben, die alles von der Zuwendung Gottes erwartet und sie mit Lobpreis im Singen, Beten und Tun beantwortet. Die Familie Hans von Wedemeyers lebte diese Erneuerung im Glauben durch tägliche Andachten, Gesang und Gebete. Zudem wurden die Kinder materiell sehr anspruchslos erzogen.“ Eine vergleichbar intensive Frömmigkeit lebten die Jarchliner von Bismarck nicht. „Großvater Gottfried, der Erbe von Kniephof (hier wuchs auch Reichskanzler Otto auf),“ schreibt Enkel Ernst von Bismarck, „war zweifellos ein Nonkonformist. Er unterschied sich sehr deutlich von seinen vor allem hasenjagenden und Fruchtfolge diskutierenden Nachbarn. Er hatte in England Musik studiert, besaß eine umfangreiche Bibliothek, interessierte sich für Geschichte, Archäologie und Technik (er war befreundet mit dem Atomforscher Nils Bohr) und las lieber die satirische Zeitschrift Punch als, wie dort damals üblich, die Jägerzeitung.“ Karte Test Dass Gottfried von Bismarck eigene Wege ging, passte insofern in die Familientradition, als schon Vorfahren einen „Eigensinn“ gezeigt hatten: „Rule von Bismarck, Ratsherr zu Stendal beispielsweise, gründete 1320 gegen den Widerstand der Kirche eine städtische Schule, weil er den Bildungsauftrag durch die kirchlichen Schulen nicht hinreichend gewährleistet sah. Ein Vorkämpfer von Otto sozusagen, der viel später die Säkularisierung der Schulen durchsetzte. Der gesamte Rat der Stadt Stendal wurde daraufhin mit dem Bannfluch belegt. Rules Sohn Nikolaus, der Stifter des Gertraudenhospitals in Stendal (1370) wurde exkommuniziert“, so Ernst von Bismarck. Der Anspruch, an der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung mitzuwirken, war in der Familie lange vor Otto von Bismarck verbreitet und zieht sich bis in die Gegenwart. Wiederholt nahmen Mitglieder der Familie von Bismarck einflussreiche Positionen ein. „Auch die Generation unserer Eltern waren in diesem Sinne echte Bismarcks“, ergänzt Ernst von Bismarck. „Jeder auf seine Weise. Klaus und Philipp standen im Rampenlicht, vertraten dort allerdings unterschiedliche Ausrichtungen, was ein gewisses, andauerndes Spannungsverhältnis in politischen Fragen trotz aller geschwisterlichen Nähe befeuerte. Beide Brüder waren sehr unkonventionell mit einem sehr ausgeprägten Persönlichkeitsprofil und unterschieden sich sehr deutlich von ihren Kollegen.“ Ein gewisser „Eigensinn“ war auch der Familie von Wedemeyer nicht fremd. Zur Illustration wird gern folgende Begebenheit kolportiert: „In der Reihe der Wedemeyer‘schen Vorfahren gab es Anfang des 19. Jahrhunderts ein Mitglied, das über etwa 40 Jahre nicht müde wurde, gegen die Welfen-Obrigkeit wegen eines von dieser zu kompensierenden Wildschadens zu prozessieren. Erst seine Kinder bekamen Recht. Dieses Streben nach Gerechtigkeit, manchmal bis...

Mehr

Hochzeit im Vorfeld des Kriegsbeginns

  Hochzeit 1939: Die beiden Familien von Wedemeyer auf Pätzig und von Bismarck auf Kniephof waren seit Jahren familiär und gesellschaftlich verbunden. Klaus von Bismarck hatte eine Zeit lang auf Pätzig als Landwirtschaftseleve gearbeitet, Ruth-Alice von Wedemeyer war häufig Gast bei Familienfeiern und Festen auf Kniephof. Die angespannte politische Situation im Sommer 1939 bewog beide nach knapp zweijähriger Verlobungszeit im Juli heiraten.  Die Hochzeit von Ruth-Alice von Wedemeyer und Klaus von Bismarck wurde „wegen Urlaubsschwierigkeiten für Soldaten“, wie die Einladungskarte informierte, kurzfristig um zwei Tage vorverlegt und fand am 15. Juli 1939 in der Dorfkirche von Pätzig statt. Sechs Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges waren sich die meisten Beteiligten der drohenden Kriegsgefahr nur allzu bewusst. Ruth-Alice‘ Mutter, Ruth von Wedemeyer, schrieb dazu in ihren Erinnerungen: „Ruth-Alices Hochzeit stand bevor. Niemand hatte, unter solch düsteren Wolken, Elan für ein großes Fest. Aber [mein Mann] Hans ahnte, daß es für lange – oder sogar für immer? – die letzte Möglichkeit war, der Jugend eine Freude zu bereiten. Also wurden 124 Personen zusammengeladen. Die Hochzeit […] war, gerade angesichts dieses bösen Hintergrundes, ein Fest von soviel Leuchtkraft und Fröhlichkeit, wie kaum einer von uns es je erlebt haben mag. Sehr bald waren viele der jungen Männer, die noch so übermütig getanzt hatten, gefallen.“ Das frisch vermählte Ehepaar Ruth-Alice und Klaus von Bismarck mit Hans von Wedemeyer Der Trauung ging der Polterabend am 14. Juli voraus. Dessen Programm versprach „Aufführungen verschiedener Piécen mit unfreiwilliger Komik“ sowie Essen, Trinken und Tanz. Aufgeführt wurde das Märchen vom Froschkönig der Gebrüder Grimm mit Cousin Alexander Stahlberg als Frosch-Prinzen und Ruth-Alice‘ Schwester Maria als Prinzessin. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Ruth-Alice freudig an das Fest, besonders an das Märchen-Musical: „Es wurde nicht nur gedichtet, sondern mit fabelhaften Songs von meiner musikalischen Tante [Spes (Pessi)] versehen. Die Lieder kann ich heute noch singen. Es wurde ein tolles Musical. Eine Bühne musste über das Beet hinter unserem Hause gebaut werden, sonst hätte meine Tante das ganze Beet ausgerissen.“ Tags darauf folgten die Trauzeremonie und das Festessen für die geladenen Gäste. Bräutigam Klaus von Bismarck hatte 1934 seine militärische Ausbildung im II. (Jäger-)Bataillon des Infanterie-Regiments 4 in Kolberg an der Ostsee begonnen und nach eigener Aussage gut vier Jahre mit „Passion“ gedient, zuletzt im Range eines Leutnants. Er war zwar inzwischen wieder in die zivile Berufswelt zurückgekehrt und arbeitete als landwirtschaftlicher Beamter, aber gemäß preußischer Tradition heiratete er in Paradeuniform und mit Stahlhelm und Säbel. Die Hochzeitsbilder wurden so ein Sinnbild für den nahen Kriegsbeginn – und für die Selbstverständlichkeit, mit der Klaus von Bismarck kurz darauf seiner „soldatischen Pflicht“ nachkam. Noch während der Hochzeitsreise erhielt er den Stellungsbefehl zum 1. August 1939 nach Kolberg. Zum Weiterlesen: Ruth-Alice über ihre Verlobungszeit Feste auf Gut Kniephof Polterabend und die Hochzeit Die Einladungskarte Programm des Polterabends Die Heiratsurkunde Speisenfolge des Festessens Ruthvon WedemeyerAnnevon KlitzingHansvon WedemeyerLuidgardevon SchlabrendorffFabianvon SchlabrendorffMaxavon LaerAnettevon LaerAnnevon KlitzingHans-Friedrichvon Kleist-RetzowHansvon WedemeyerLuitgardevon SchlabrendorffGerdvon Tresckow Pätziger Kirche vor der Trauung, Juni...

Mehr

Leben im Schatten des Krieges

  In den ersten Kriegsjahren änderte sich für die Menschen im heimatlichen Jarchlin offenbar wenig. Erst nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurden auch hier Schritt für Schritt die Folgen deutlicher spürbar: immer mehr Männer mussten Kriegsdienst leisten, Frauen wurden an der „Heimatfront“ in Dienst genommen, Ausgebombte und Kriegsgefangene sorgten in vielen Häuser für drangvolle Enge, Nahrungsmittel wurden knapp. Anfang 1945 begann eine dramatische Flucht vor der heranrückenden Roten Armee. „Als der Polenfeldzug so schnell zu Ende ging, hofften wir alle, nun wäre alles überwunden. Aber es ging weiter. Es häuften sich böse, unrechte Dinge im Innern, und mehr und mehr schwand das Vertrauen auf ein erträgliches Ende“, erinnerte sich Gertrud von Bismarck, geborene Koehn, später an das Mitbangen der Familienmitglieder seit Kriegsbeginn am 1. September 1939. Neben vielen männlichen Familienmitgliedern erhielten im Laufe des Krieges auch der Jarchliner Lehrer Burow und Pfarrer Wurms ihren Einberufungsbefehl. Mehrere Gemeindemitglieder wechselten sich anschließend, misstrauisch beäugt von den Genossen der NSDAP, mit der Leitung der Gottesdienste ab. Ruth-Alice von Bismarck übernahm in der Dorfschule als Aushilfslehrerin den Unterricht. Die Konfirmandenstunden teilte sie sich mit der Schwiegermutter, die später zudem als Aushilfskrankenschwester tätig war, zuletzt in einer Kinderklinik in Berlin-Nikolassee. Ruth-Alice und Klaus von Bismarck sowie vorne im Auto Ruth und Hans von Wedemeyer Zwischen Herbst 1942 und Sommer 1944 half Klaus von Bismarck mehrmals über längere Zeiträume bei der Bewirtschaftung der heimischen Güter der Familie. Möglich geworden war dies durch eine monatelange UK-Stellung im Tausch mit Werner Liebrecht, der zuvor die Güter geleitet hatte, und durch mehrere Fronturlaube. Größere Probleme bei der Bewirtschaftung sind nicht bekannt geworden. Zwangsarbeiter ersetzten damals wie nahezu überall im Deutschen Reich einen Teil des fehlenden Personals. Als Klaus wieder an die Ostfront beordert wurde, waren alle vier Söhne – außer Klaus auch Philipp, Günther und Gottfried sowie der Schwiegersohn von Gertrud von Bismarck – im Kriegsdienst. Die Hauptverantwortung für die Güter lag nun erneut bei den Frauen, von denen viele in der Feldarbeit „ihren Mann“ stehen mussten. Spätestens im November 1944 litt dann auch das ländliche Pommern stärker unter den Auswirkungen des Krieges: „Unsere Häuser waren voll besetzt mit Flüchtlingen aus den zerbombten Städten, die Zwangsbewirtschaftung aller Lebensmittel war auch bei uns auf dem Lande unangenehm fühlbar, weder Fleisch noch Milch durfte frei verbraucht werden. Die Arbeit draußen und in den Ställen mußten wir mit Ukrainern und Italienern schaffen, es waren fast alle Männer an der Front“, blickte Gertrud von Bismarck später zurück und erinnerte sich, wie sich die Versorgungssituation zuspitzte: „Eine Tüte Stückenzucker mit einem Vers dazu, eine Dose Nescafe aus Österreich waren Weihnachten 44 königliche Geschenke.“ Gefeiert wurde 1944 das letzte Weihnachtsfest im Kniephofer Gutshaus unter einem Kruzifix, das Klaus von Bismarck während des Fronteinsatzes gefunden und nach Hause geschickt hatte. Es sollte später in der Kapelle in Villigst hängen. Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und dem Kriegseintritt der USA 1941 wurde eine militärische Niederlage der Wehrmacht immer wahrscheinlicher. Diese Erkenntnis setzte sich aber erst allmählich durch. In der Bevölkerung begann mit der deutschen Niederlage in der Schlacht um Stalingrad Anfang Februar 1943 ein deutlicher Stimmungsumschwung: Immer weniger glaubten nun an einen „guten Ausgang“ des Krieges für Deutschland. Anscheinend rechnete man in der Familie von Bismarck zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht mit allzu dramatischen Folgen. So bat damals Klaus von Bismarck Beamte im Berliner Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft zu sondieren, ob ein Familienmitglied im besetzten Reichsgau Wartheland (Polen) ein Gut erwerben könne. Spätestens ab Sommer 1944 machten sich Klaus und seine Brüder Philipp und Günther dann auf eine verheerende Niederlage gefasst. Sie informierten die Familienmitglieder zuhause, dass die Rote Armee...

Mehr

Glückliche Kindheit in Gut Oberbehme

  Gottfried von Bismarck: Im Januar 1945 flohen meine Mutter Ruth-Alice, hochschwanger mit meinem Bruder Klaus, gemeinsam mit meinem Bruder Hans (2), Bertha Volck („Dane“), einem Kutscher, zwei Hausangestellten und mir (4) vor der schnell näher rückenden russischen Armee. Unser Ziel war das von Verwandten bewirtschaftete Gut Oberbehme in Westfalen. Bis 1949 bildeten wir dort zusammen mit vielen anderen Flüchtlingen eine große Gemeinschaft. Uns Kindern eröffnete sich damals ein spannendes Neuland. Die Reise von unseren Gütern Kniephof und Jarchlin ‒ erst mit einem von zwei Pferden gezogenen Schlitten bis zur Oder, dann auf einem Fuhrwerk ‒ endete für uns nach ca. zwei Wochen unversehrt bei Familie von Laer auf deren Gut Oberbehme bei Herford, von Vater Klaus vorausschauend ausgewählt und vorbereitet. Die Flucht erinnere ich als unbeschwert von den – mir damals kaum bewussten – Ängsten und Sorgen der Erwachsenen, dem Kriegsschrecken, dem Verlust von Haus und Heimat. Ich fühlte mich in der Gruppe geborgen und erlebte die Flucht als eine aufregende Reise: meist auf dem Kutschbock sitzend, durfte ich manchmal die Zügel führen und wir übernachteten stets an einem anderen Ort bei Verwandten. Großmutter Ruth von Wedemeyer mit Enkel Ernst Das große Gut Oberbehme, eine ehemalige Wasserburg, war als geschlossenes Viereck aus Haupt-, Wirtschafts- und Stallgebäuden um einen großen Innenhof samt Misthaufen und Auslauf für die Schweine gebaut. Das Ensemble umgab ein breiter Schlossgraben und ein weitläufiger Park, und es bot Sicherheit und ideales Abenteuer-Terrain für ca. dreißig Kinder, eine sozial bunt gemischte „Gang“ mehrerer Flüchtlings- und Arbeiterfamilien. Zwei gleichaltrige enge Freunde (Krischan Krüger und Peter Spiegel) und eben diese Gang bildeten bis 1949 einen wichtigen sozialen Horizont, meist distanziert und in Opposition zu den Erwachsenen und deren Welt. Neben der Gutsbesitzerfamilie von Laer bewohnten mit uns zahlreiche weitere verwandte Flüchtlinge aus dem Osten das Gut: die Familie von Ruth-Alice (u.a. ihre Mutter Ruth sowie ihre Geschwister Hans Werner und Peter Christian) sowie die Familien meiner Freunde. Bestehend aus insgesamt etwa 100 Personen, bot diese vielfältige Gemeinschaft durchaus Geborgenheit, sicher auch für meine vier jüngeren Geschwister; hinzugekommen waren Klaus (1945), Ernst (1947), Friedrich (1948). Unser Vater war mit der herausfordernden Jugendaufbauarbeit in Vlotho betraut; wir sahen ihn selten. Der Mutter allein fiel die Aufgabe zu, ihre fünf Kinder christlich zu erziehen, allerdings wunderbar unterstützt von Bertha Volck „Dane“. Täglich gab es ein Morgen- und Abendgebet. In einem Interview sagte Ruth-Alice 2005 rückblickend dazu: „Da kehrte ich nochmal als älteste Tochter sehr stark in die Ethik meiner eigenen Aufzucht zurück. Ich wurde nochmal sehr konservativ in meinem Verhalten. Mein Sohn Gottfried sagte uns mal ‚Ihr habt uns anachronistisch erzogen, aber ihr habt erzogen'“. Die Gemeinschaft mit den Freunden war belebt von spannenden, interessanten Projekten. So errichteten wir bewohnbare Pfahlbauten im Schlossgraben, brieten von in selbstgebauten Fallen gefangene Spatzen oder veranstalteten Wettfahrten auf mit Benzinkanistern gebauten Flößen. Dieser Spaß wurde allerdings jäh und radikal beendet durch die Feststellung der Großmutter von Laer, dass die vom Dachboden entwendeten Floßbretter für ihren Sarg reserviert waren. Die Gemeinschaft der Dreißig-Kinder-Gang zeigte ein großes Bedürfnis, sich selbst zu bestätigen mit immer neuen Späßen gegenüber den Erwachsenen. In der ersten Zeit waren wir noch nicht in Zimmern untergebracht, sondern lebten in den großen Festräumen auf kleinen, durch Gobelins abgeteilten Wohnfeldern. Infolge der dichten Belegung hatten wir Kinder uns angewöhnt, den Zimmerzugang direkt durch die niedrig liegenden Hoffenster zu nutzen. Folglich wurde die gesamte Gruppe zu einer Standpauke in den herrschaftlichen Teil einbestellt. Abschließend fragte Tante Maxa von Laer die Gang: „Habt ihr das jetzt alle verstanden und versprecht ihr, es nie wieder zu tun“. Darauf Krischan Krüger: „Jetzt aber raus hier!“ Und einer nach dem...

Mehr