Zeitzeugen: Ruth-Alice von Bismarck und der Shalom Kreis

Der Shalom Kreis ist eine private, weltoffene und interreligiöse Vereinigung. Mitbegründerin und viele Jahre lang Mittelpunkt der Initiative war Ruth-Alice von Bismarck. Weitere bedeutende Mitinitiatoren waren Prof. Dr. Herbert Jehle (1907-1983), ein Physiker, der als NS-Gegner nach seiner Emigration an mehreren Universitäten in den USA lehrte und forschte, und seine Frau Dietlinde „Dieta“ Jehle (1915-2009), geb. Freifrau von Künßberg. Beide waren engagierte Pazifisten und Quäker, die seit 1977 in München lebten.

Renate Lauermann
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Der Kreis wurde vor allem von engagierten Menschen aus der Friedensbewegung getragen. Dazu zählten Mitglieder von Pax Christi, TeilnehmerInnen an der Menschenkette von Stuttgart / Ulm 1983 und an den Sitzblockaden in Mutlangen ab 1983, besonders jene aus der Gruppe mit dem Schriftsteller Dieter Lattmann (1926-2018), sowie Ostermarschierer. Motive des Engagements im Shalom Kreis waren persönliche Kriegserfahrungen oder um 1989 für einen friedlichen Verlauf der Demonstrationen in Leipzig und Ostberlin zu beten.

Die Kraft ihrer Spiritualität

Jour fixe des Shalom Kreises war donnerstags Nachmittag. Ruth-Alice von Bismarck lud zu Friedensgebet, Tee und Gespräch in ihre Wohnung in der Römerstr. 4 in München, Westschwabing, ein. (Auf dem Foto das Dreifachfenster im 1. Stock.) Es war ein heterogener Kreis unterschiedlichster Frauen, der sich in seiner Zusammensetzung mit den Jahren veränderte.

Wir waren vornehmlich Frauen. Dr. Elisabeth Kickhöfer, Theologin, Renate Lauermann, Übersetzerin, Inge Ammon, Pfarrersfrau der Erlöserkirche München Schwabing und unermüdliche Friedens-Aktivistin, Marlen Lattmann, Heidi Hemmer, Freundin von Ruth-Alice aus pommerscher Zeit, Ingrid Drum, Aktivistin in urbanen Themen und Mitinitiatorin des „Römermülls“, Anna Weiß, Gertrud Scherer, Lehrerin, Ursula Edle von Hayek, Ulrike Trüstedt, Komponistin, Mareijke Köhler-Wories, Sekretärin von Ulrike Mascher (Politikerin, SPD), bildeten die sogenannte Stammgruppe. Gäste waren immer willkommen.

Es gab eine Dramaturgie:

Die Anliegen
Nach Quäker-Art konnte jeder sein Anliegen im Kreis vortragen, unabhängig davon, ob sie persönlicher oder politischer Natur waren. Ruth-Alice von Bismarck griff dann nach ihrer Bibel, die immer bereit lag, oder nach den Herrnhuter Losungen, wählte einen Psalm aus und trug ihn vor. Ihre Stimme wurde kontinuierlich leiser. Mit geschlossenen Augen, tief in sich hineinhorchend, die Hände gefaltet, mit verschränkten Fingern, strahlte sie eine große Stille aus. In ihr sammelte sie ihre Gedanken, in die hinein sie ihr Gebet formulierte, die Anliegen mit einschließend. Aus einer tiefen Vertrauensbasis heraus kamen ihre Worte. Wesentlicher Ansprechpartner ihres Gebetes war das DU –

Ihr Gebet
transformierte uns und die vorgetragenen Anliegen und/oder Sorgen, sie persönlich sprach von Segen (siehe nachfolgender Text). Es waren authentische Momente.

Beitrag
Das Treffen wurde durch einen aktuellen Beitrag, sei er politischer, kultureller oder sozialer Art, fortgeführt. Oft verschickten TeilnehmerInnen bereits im Vorfeld Faxe mit ihren Anregungen für das kommende Treffen. Oder es gab Gastvorträge. Beispielsweise war während des jugoslawischen Bürgerkriegs in den 1990er Jahren der serbisch-orthodoxe Pope aus München zu Gast.

Diskussion
Den Beiträgen folgte stets eine Diskussion. In lockerer Gesprächsrunde klang das Treffen aus, und wir gingen verändert nach Hause.

Feste, Feiern
An Epiphanias wurde Neujahr gefeiert, mit großem Christbaum, Suppe, Tee und Plätzchen. Der Kreis der Gäste war größer und vielschichtiger. Mittelpunkt der Feier war die Zeremonie der Anliegen. Nach Quäker-Art konnte jeder sein Anliegen formulieren und anschließend symbolisch eine Kerze am Christbaum anzünden, jeder bekam hierfür die Zeit der Welt. Der Christbaum erstrahlte und draußen brach die Nacht herein. Ruth Alice von Bismarck verstand zu feiern.
Der Shalom Kreis trifft sich heute noch in veränderter Form bei Gudrun Diestel.

Engagement für Asylanten und Migranten

Anna Gourari, Pianistin, kam mit ihrer Familie aus Kasachstan nach München. Sie konnte in der Wohnung von Ruth-Alice von Bismarck üben.

Ihr Humor

Eine Episode (kurze Zeit vor dem Umzug, Klaus von Bismarck war gerade in Hamburg zu Besuch gewesen): Mit ihrem typischen Lachen eröffnete Ruth-Alice von Bismarck den darauffolgenden Shalom Kreis: „Klaus war auch auf dem Ohlsdorfer Friedhof auf der Suche nach einer geeigneten Grabstätte. Zur Entscheidung trugen die beiden ihn begleitenden Schwiegertöchter bei mit dem Vorschlag, sich neben ihn zu legen.“ Mit schallendem Lachen rundete Ruth-Alice dieses Hamburg-Mitbringsel ab.

Ulrike Trüstedt
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Erinnerungs-Fetzen

Sie hatte den Schneid, Flyer zum „Römermüll“ in die Briefkästen der Römerstraße persönlich zu verteilen.
Wenn Ruth-Alice von Bismarck von Pätzig oder Kniephof erzählte, schwang nie ein versteckter Vorwurf über die verlorene Heimat mit.
Ruth-Alice von Bismarck berichtete vom Tod ihres Sohnes – es war eine Hymne an das Leben, nicht die Trauer stand im Vordergrund.
Berichte von Reisen nach Israel mit Reuven Moskovitz und den Enkelkindern.
Es war die Zeit, in der Ruth-Alice von Bismarck die „Brautbriefe Zelle 92“ ihrer Schwester Maria mit Dietrich Bonhoeffer zur Veröffentlichung vorbereitete.
Als Ausdruck ihres Pazifismus trug sie den Button der Schwabinger Friedensinitiative, weiße Taube auf blauem Grund, deutlich sichtbar an ihrem Mantel.

Ulrike Trüstedt, Renate Lauermann, München, Mai 2018