Glauben: Gleiche Ziele, unterschiedliche Wege

Aufgewachsen in stabilen protestantischen Milieus, blieben Ruth-Alice und Klaus von Bismarck zeitlebens fest verankert im christlichen Glauben und dessen Werteordnung. Infolge der sie grundlegend erschütternden Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Krieg verband beide nach 1945 eine dauerhafte und offene Suche nach neuen Wegen, als Christ aktive Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Unterschiede im Glaubensverständnis und in den persönlichen Bedingungen führten allerdings zu differenziertem Handeln.

„Der Mensch und die ihm anvertraute Schöpfung ist Teil der göttlichen Ordnung“, so beschreibt Sohn Klaus rückblickend das Glaubensverständnis seiner Mutter. „In dieser patriarchalischen Ordnung ist jeder ‚an seinen Platz‘ berufen, um die Verantwortung zu übernehmen und auszufüllen, die dieser Platz fordert. Die eigene Herkunft bestimmt die Aufgabe. Die eigene Kraft des Menschen reicht für diese ‚Mission‘ nicht aus. Daher erbittet man immer wieder vom Schöpfer zusätzliche Stärke, um diese Mission erfüllen zu können. Die Auseinandersetzung mit Gottes Wort, Andacht und Gebet helfen dazu, immer wieder neu die ‚Aufgaben‘ zu erkennen. Die umgebende christliche Gemeinschaft ist dazu eine notwendige Hilfe. Trotz allen Bemühens, den richtigen Weg zu erkennen und zu gehen, wird man schuldig an einzelnen Menschen und der Gesellschaft und bedarf daher der Vergebung. Dies Bewusstsein verhindert Hochmütigkeit und Selbstüberschätzung.“

An christliche Demut appellierte Klaus von Bismarck ebenfalls wiederholt. Im Unterschied zu seiner Frau betonte er jedoch von Anfang an deutlich stärker die Eigenverantwortung von Christen: „Er hat uns Kindern aber auch vermittelt“, erinnert sich Sohn Gottfried, „dass verantwortliches Handeln als Christ nicht allein aus dem Glauben abzuleiten ist. Glaube könne nur ein starkes ‚Geländer‘ sein für – dem eigenen Gewissen verpflichtetes – eben selbstverantwortliches Handeln.“ Offenkundig, so interpretiert dies Sohn Klaus, wirkte sich beim Vater die „kreatürliche, an der Schöpfung und das ganze Leben umschließende Glaubenskultur“ aus, die dieser als Kind in der pommerschen Heimat und bei seinen Schwiegereltern erfahren hatte. Dort hatten ihn nicht nur christliche Elemente, sondern auch bürgerliche Bildungskultur, landwirtschaftliche Betätigung, verantwortungsbewusste Gutsherrschaft und das Soldat sein stark geprägt. Kritik und Zweifel an so manchen kirchlichen Traditionen kamen Klaus von Bismarck früh, doch lernte er später „Kirche“ als Rahmen für anregenden und sinnstiftenden Austausch sehr schätzen. Gemäß seinem Glaubensverständnis sah er den einzelnen Christen dabei stets ‒ stärker als Kirchenleitungen ‒ in der Pflicht, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren.

Engagement für Erneuerung von Kirche und Gesellschaft

Im Bewusstsein der eigenen Begrenztheit und Schuld versuchten Ruth-Alice und Klaus von Bismarck nach 1945 an einem kontinuierlichen Prozess der Erneuerung von Kirche und Gesellschaft mitzuwirken. Beide zeigten sich tief beeindruckt von Dietrich Bonhoeffer, wobei Ruth-Alice sich früh und intensiv dem Leben und den Gedanken des von den Nationalsozialisten ermordeten Theologen widmete, während ihr Mann nach eigener Aussage erst später die Bedeutung Bonhoeffers für die Evangelische Kirche erfasste. Besonders die inspirierende Gemeinschaft in Villigst ließ bei Ruth-Alice und Klaus von Bismarck gemeinsam die Überzeugung reifen, dass die Zukunft von Christen nur in einer vitalen Ökumene liegen könne. Dabei widmete Ruth-Alice von Bismarck den theologischen Aspekten stärkere Aufmerksamkeit als dies ihr Mann tat.

Während Klaus auf der Basis seiner beruflichen Position in Villigst mit der Gemeinsamen Sozialarbeit der Konfessionen eine erste überregional beachtete ökumenische Initiative mit auf den Weg brachte, musste sich Hausfrau und Mutter Ruth-Alice – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – zunächst noch weitgehend auf das direkte Umfeld ihrer Villigster Gemeinde beschränken. Ihr Bewegungsspielraum weitete sich spätestens mit dem Umzug nach Köln, als die acht Kinder selbstständiger wurden. Den Kreis christlicher Gemeinschaft wählte sich Ruth-Alice immer selbst, sie blieb nicht auf den Gemeindesprengel jenes Kreises, in dem sie wohnte, begrenzt. Vielmehr knüpfte sie zahlreiche Kontakte zu Juden, orthodoxen Christen und Katholiken in aller Welt, wobei ihr die eigene tiefe Verwurzelung im Glauben und in der Liturgie beim ökumenischen und interreligiösen Austausch halfen.

Klaus von Bismarck suchte in der Kirche nach Menschen, die ein ähnliches Glaubensverständnis lebten wie er selbst. Er fand sie früh in den westfälischen Präsides Hans Thimme und Hans Wilms, im Essener katholischen Bischof Franz Hengsbach und im katholischen Publizisten Walter Dirks. Zahlreiche weitere Weggefährten im Glauben kamen mit der Zeit hinzu. Sie waren allesamt „Menschen, die mich davon überzeugten, daß sie etwas von der Wirklichkeit der Liebe Christi auf Erden verkörpern“, so fasste er später deren Bedeutung für ihn selbst zusammen. Auf dieser Basis entfaltete Klaus von Bismarck bald auch ein vielfältiges und dauerhaftes Engagement in der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Respektvolle Auseinandersetzung mit Andersdenkenden

Besonders auf Kirchentagen fanden Ruth-Alice und Klaus von Bismarck nach übereinstimmender Aussage eine belebende Breite christlichen Glaubens. Für Klaus waren die dortigen Foren ideal, um nicht in eine „trügerische Harmonie-Vorstellung“ zu verfallen, vor der er wiederholt warnte. Man müsse vielmehr auch in der Kirche lernen, „mit Konflikten zu leben“. Seine Frau teilte die Vorliebe für den leidenschaftlich-respektvollen Austausch konträrer Standpunkte und Sichtweisen. Während er als Kirchentagspräsident und durch seine öffentlichkeitswirksamen Ämter aber in ein mitunter starkes Korsett von Aufgaben und Pflichten eingebunden war, genoss sie die große individuelle Bewegungsfreiheit an der kirchlichen Basis. Der intensive Austausch des Ehepaars über gemeinsam besuchte Kirchentage gehörte bald zum beidseitig gern gepflegten Ritual. Auch an anderer Stelle suchten sie immer wieder die Anregung durch die Perspektive des Partners, etwa, wenn Klaus seiner Frau die eigenen Referate und Stellungnahmen, die er in kirchlichen Rahmen oder bewusst als Christ verfasste, vorab zum kritischen Gegenlesen gab.

Für beide charakteristisch wurde ein fließender Übergang von christlich-kirchlichem und gesellschaftlich-politischem Engagement. Durch die beruflichen und kirchenamtlichen Positionen konnte Klaus von Bismarck leichter in einen breiteren öffentlichen Raum hineinwirken als seine Frau. Ruth-Alice erwarb sich große Achtung und Anerkennung durch ihr unermüdliches „Basisengagement“.

 

Autoren: Gottfried und Klaus von Bismarck, Josef Schmid