Zeitzeugen: Erinnerungen an Ruth-Alice von Prof. Dr. Christian Pfeiffer

„Stundenlanges Kartoffeln schälen, Reden über Gott und die Welt, Krawattenshow von Klaus, die Gründung der Bürgerstiftung Hamburg“ sind nur wenige Schlaglichter, die Christian Pfeiffer auf die Jahrzehnte währende Freundschaft zwischen dem Ehepaar Pfeiffer und dem Ehepaar von Bismarck wirft. In seinen Erinnerungen an Ruth-Alice von Bismarck bleiben ihre Lebenslust, Liebefähigkeit und eine nie endende Neugier auf das Leben um sie herum die prägnantesten Eigenschaften.

Prof. Dr. Christian Pfeiffer - Foto: Bischöfliche Pressestelle Hildesheim (bph)
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Vor etwa 35 Jahren besuchten uns Frieda und Magdalena in München-Schwabing in der Kurfürstenstraße. Sie entdeckten dadurch, dass wir nur zwei Straßen entfernt von ihren Eltern/Schwiegereltern wohnten und luden uns dazu ein, die beiden kennenzulernen. So sind wir Ruth-Alice und Klaus das erste Mal in ihrer wunderbaren Altbauwohnung mit den großen, hohen Räumen und den Flügeltüren dazwischen begegnet. Ausgehend von unserem gemeinsamen Kaffeetrinken hat sich eine nachbarschaftliche Freundschaft entwickelt. Wir sind oft bei ihnen gewesen, manchmal kurz entschlossen zu einem kleinen Plausch oder zu abendlichen Gesprächen bei einem guten Glas Rotwein. Daneben gab es aber auch die Einladungen zu den großen Diskussionsrunden. Dann wurden die Flügeltüren geöffnet. So entstand Platz für 30 Personen. Es gab eine wunderbare Kartoffelsuppe, Brot, guten Wein und immer einen Impulsvortrag zu einem spannenden Thema. Danach wurde lebhaft und manchmal auch kontrovers debattiert. Klaus leitete die Diskussion. Aber der emotionale Mittelpunkt war immer Ruth-Alice mit ihrer umwerfenden Herzlichkeit, ihrem lachenden Gesicht und ihrer engagierten Fürsorge für Gäste, die nicht richtig zu Wort kamen oder als Querdenker einen neuen Akzent setzen wollten.

Einmal hatte ich das große Vergnügen, selber als abendlicher Referent mitzuwirken. Die Kriminalisierung türkischstämmiger Kinder und Jugendlicher war mein Thema. An die abendliche Diskussion kann ich mich heute gar nicht mehr erinnern, wohl aber an den Nachmittag. Ich saß mit Ruth-Alice in der Küche. Wir schälten einen Riesenberg von Kartoffeln und redeten miteinander über Gott und die Welt – buchstäblich. Religion war uns beiden wichtig, aber das auf sehr unterschiedliche Weise. Ruth-Alice war kirchlicher als ich, stärker im Gebetsdialog mit Gott verbunden. Mir war schon damals das Glaubensbekenntnis ein fremder Text, den ich im Gottesdienst nicht mitsprechen wollte. Aber in unserer großen Begeisterung für Christus und seine Botschaft, da trafen wir uns und hatten so unsere gemeinsame Gesprächsbasis.

Aber dieser lange Nachmittag bot auch die Chance, über ganz andre Themen zu reden. Ruth-Alice erzählte mir von Dietrich Bonhoeffer und ihrer Schwester Maria und davon, dass die beiden Verlobten sich nicht mehr sehen konnten, nachdem die Nazis ihn 1943 ins Konzentrationslager Buchenwald und dann in das KZ Flossenbürg gebracht hatten. Sie berichtete mir von dem eindrucksvollen Briefwechsel, der so entstanden ist. Und weil wir über diese starke Liebesbeziehung sprachen, landeten wir auf einmal bei Anna und mir. Nach zehn Jahren Partnerschaft hatten wir uns dank Annas Schwangerschaft endlich dazu entschlossen, zu heiraten. Ruth- Alice und Klaus hatten wir dazu natürlich eingeladen und so erzählte sie mir an diesem Nachmittag schließlich farbig und mit großer Erinnerungsfreude von ihrer eigenen Hochzeit im Sommer 1939 auf dem Gut Pätzig.

Doch dann gab es bei uns plötzlich eine große Sorge. Anna geriet in eine Risikoschwangerschaft, musste wochenlang liegen. Da tauchte eines Tages Ruth-Alice mit einem Blumenstrauß bei ihr auf, setzte sich an ihr Bett und erzählte ihr von ihrer ersten Schwangerschaft, von den Ängsten, die sie da hatte und der Riesenfreude, dass dann alles gut gegangen war, als das erste von acht Kindern auf die Welt kam. Drei Monate später war dann bei unserer Hochzeit Walzer angesagt – zunächst mit Anna, vorsichtig und nicht zu wild, damit es ja keine Frühgeburt gibt – dann mit Ruth-Alice, richtig schwungvoll und mit überschäumender Lebensfreude.

An eine schöne Szene aus der Römerstraße hat mich Anna erinnert. Sie hatte Klaus wegen einer wunderbaren Krawatte angesprochen, die er an meinem Vortragsabend trug. Da lud er uns und die umsitzenden Männer dazu ein, seine farbenprächtige Krawattensammlung zu besichtigen. Ein bisschen wirkte er so wie ein herrlicher Pfau, der uns seine bunten Federn zeigt. Er berichtete, dass es einen Freund gibt, mit dem er jedes Mal, wenn sie sich treffen, die Krawatten austauscht. Ruth-Alice stand die ganze Zeit dabei und amüsierte sich königlich über ihren Krawatten liebenden Ehemann.

Einige Zeit später zogen beide nach Hamburg um. Aber auch wir wechselten kurze Zeit später in den Norden, weil ich in Hannover einen Traumjob als Kriminologe bekam. So konnte die Freundschaft lebendig bleiben. Und wieder gab es die Einladung an mich, in ihrer großen Wohnung bei Kartoffelsuppe, Brot und Wein einen Vortrag zu halten. Mein Thema war dieses Mal die Frage, ob auch in Hamburg eine Bürgerstiftung entstehen sollte. Zwei Jahre vorher hatte ich in Hannover die Initiative zur Gründung der ersten deutschen Bürgerstiftung in Gang gebracht. Es war gelungen, eine starke Gruppe von Ideenreichen, Zeitreichen und Geldreichen unter der Überschrift Bürgerstiftung zusammen zu führen. Gemeinsam hatten wir uns vorgenommen, Projekte in den Bereichen Jugend, Kultur und Soziales in Gang zu bringen oder schlicht zu finanzieren. Ruth-Alice hatte ich hiervon erzählt. Sie war von der Idee so begeistert, dass sie mich bat, in großer Runde hierüber zu berichten. Und so entstand an diesem Abend tatsächlich der konkrete Plan, auch in Hamburg die Gründung einer Bürgerstiftung in Angriff zu nehmen. Das ist jetzt 15 Jahre her. Inzwischen gibt es in Deutschland über 300 solcher Bürgerstiftungen. Hamburg und Hannover wurden zu wahren Vorbildern. Mit über 30 Millionen Euro auf dem Kapitalkonto ist die aus Hamburg die mit Abstand erfolgreichste geworden. Vor einigen Jahren wurde sie in Berlin besonders geehrt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt die Laudatio und würdigte dabei auch das großartige Engagement der Vorstandsvorsitzenden, Johanna von Hammerstein, der Nichte von Ruth-Alice.

Das letzte Mal habe ich Ruth-Alice etwa ein Jahr vor ihrem Tod gesehen. In krakeliger Schrift hatte sie mir vorher einen bunten Brief geschrieben – die Adresse stimmte nicht ganz. Aber der Postbote hatte es trotzdem geschafft, den richtigen Briefkasten zu finden. Die Botschaft von Ruth-Alice war ein herrliches Durcheinander von Fragen, Erinnerungsblitzen und einer unmissverständlichen Aufforderung: Besuch mich doch mal wieder. Das habe ich dann auch getan. Ich traf sie in ihrer kleinen Wohnung in diesem Hamburger Seniorenstift. Eine nette Pfarrerin war ebenfalls zu Besuch. Vorher hatte ich ihr den Text einer Predigt zugeschickt, die ich auf Einladung einer Gemeinde Hannovers gehalten hatte. Und so hatten wir wieder ein theologisches Thema. Es war eine richtige Freude, mit den beiden darüber zu diskutieren und zu erleben, wie tief Ruth-Alice nach wie vor in ihrem Glauben verankert war, der ihr wirklich Kraft vermittelte. Aber das Schönste an diesem Besuch war natürlich Ruth-Alice noch einmal mit ihrer großen Liebesfähigkeit zu erleben, ihrer Neugierde auf das, was aus unseren Kindern geworden ist, ihrer lebhaften Anteilnahme an dem, was ich ihr aus der Forschungsarbeit unseres Instituts berichten konnte und von meiner großen Fahrradtour, die ich damals gerade zugunsten von 35 Bürgerstiftungen von Wismar bis München unternommen hatte.

Ruth-Alice wirkte an diesem Tag auf mich einerseits schon sehr gebrechlich. Ich ahnte, dass ich sie möglicherweise zum letzten Mal gesehen habe. Aber andererseits war sie ganz die Alte, voller Freude über Geschichten, die sie mir über ihre Enkel erzählen konnte, voller positiver Anteilnahme über das, was ich ihr berichtet hatte. Ihr strahlendes Gesicht bei der Abschiedsumarmung ist die letzte Erinnerung, die ich an sie habe.

November 2014

Christian Pfeiffer