Zeitzeugen: Erinnerungen an Ruth-Alice von Dr. Alice Haidinger

Die gebürtige Hamburgerin, Familienanwältin und Mitgründerin der Arbeitsgemeinschaft zur Förderung einer Beratungsstelle für Eheleute und Verlobte in Karlsruhe, Dr. Alice Haidinger (geb. Rée), erinnert sich an die frühe Begegnung mit Ruth-Alice und Klaus von Bismarck kurz nach Kriegsende. Damals noch in der Ausbildung zur Juristin kam sie von Hamburg mit einem besonderen Anliegen zu den Bismarcks nach Oberbehme. Die freundschaftliche Beziehung, die sich aus dieser Begegnung entwickelte, hielt ein ganzes Leben lang.

Bald nach dem Kriegsende traf sich ein Freundeskreis von Studenten und dachte darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass die Nazis in unserem Land so viel Macht gewinnen konnten. Wir schauten auf England und die USA und erfuhren, dass dort die akademische Jugend in Colleges lebt und im Zusammenleben schon Demokratie lernt. Wir schlossen daraus, dass, wenn in der Weimarer Republik die Studenten in einem College gelebt hätten, die zukünftigen Akademiker nicht so unpolitisch gewesen wären, dass sie dem National-sozialismus erlagen. So hatten wir den größenwahnsinnigen Plan, ein College zu gründen. Unter den Namen, die uns als mögliche Förderer genannt wurden, war auch Klaus von Bismarck. So machte ich mich mit Christian (Chrischi) Albrecht, später Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft und dann maßgeblich am Aufbau der Universität Hamburg beteiligt, und Caspar (Cassi) Kulenkampff (Student der Medizin und später Professor für Psychiatrie) auf, ihn auf seinem Jugendhof Vlotho zu besuchen. Wir wurden nach Oberbehme geschickt, wo er mit Ruth-Alice, drei Kindern und der Familie seiner Schwiegermutter als Flüchtling lebte. Als wir die kleine Brücke des Wasserschlosses überquert hatten, schlug die Uhr acht oder neun abends, es war „Curfew“, d. h., es herrschte nächtliche Ausgangssperre und kein Deutscher durfte noch auf der Straße sein. Für die Bismarcks hieß das, zu den Flüchtlingen kamen noch drei Hamburger, die dort übernachten mussten. Eine strahlende, bezaubernde Frau mit ihrem dritten Sohn Klaus auf dem Arm empfing uns in der großen Wohnküche. Selbstverständlich konnten wir bleiben. Klaus kam dazu und bei Tee wurde heiß diskutiert, unsere Pläne für gut befunden und wir wurden eingeladen auf der Rückfahrt wieder in Oberbehme zu übernachten. Wir wollten noch zu dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, dem EKD-Ratsmitglied und Mitunterzeichner des Stuttgarter Schuldbekenntnisses vom Oktober 1945, und zu Kardinal Graf von Galen, dem Bischof von Münster, der in der Nazizeit gegen die Euthanasie gepredigt hatte mit dem Erfolg, dass sie beendigt wurde. Man hatte nicht gewagt, ihn ins KZ zu bringen.

Dr. Alice Haidinger
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Bei dem zweiten Besuch auf der Rückfahrt wurde mir erst richtig klar, was für ein Geschenk für mich diese Begegnung mit Klaus und Ruth-Alice war. Als Hamburgerin hatte ich keinerlei Verbindung zu Menschen aus dem Osten und nun diese Familie! Sie luden mich zu Ostern [1947f] ein und da wurde mir so bewusst, dass sie auf ihrem Treck ihre Welt mitgenommen hatten. Es gab eine Morgenandacht, eine Abendandacht. Die Ostereier lagen in einer Schale, in der schon lange vorher Hafer gesät und gewachsen war und der nun eine Osterwiese bildete. Vor Sonnenaufgang musste das Osterwasser geholt werden und man durfte als Mädchen auf keinen Fall dabei lachen, obgleich die Jungs alles dazu taten, dass man doch lachen musste. Diese Familie hatte nichts mehr als ihren Glauben und ihre Tradition, aber das war für mich hinreißend. Ruth-Alice konnte mit einigen Handgriffen aus einer kargen Kammer mit einer Militärdecke und einem Zweig in einer Flasche eine gemütliche Höhle für Klaus gestalten. Wie wir alle satt wurden, ist mir heute noch ein Rätsel. Ich habe nie gehört, dass Ruth-Alice über irgendwas gejammert hat. Wichtig war nur, die Welt zu verändern oder zu lachen.

Das änderte sich auch nicht als ich sie später in Villigst und Köln besuchte. In Köln erlebte ich ein von ihr in ihrem Haus organisiertes Singen von Weihnachtsliedern mit italienischen Gastarbeitern. In München beeindruckte mich ihr Einsatz für Mülltrennung, über die damals noch die wenigsten Leute nachdachten.

Auch kümmerte sie sich um die Eingliederung von russischen Juden, die keine Ahnung von ihrem jüdischen Glauben hatten, und unterrichtete sie in ihrem jüdischen Glauben.

Dazwischen unsere Reise nach Israel zu ihrem 60. Geburtstag 1980, bei der Klaus auf einmal gar nichts mehr zu sagen hatte und sich auf die etwas ungewöhnliche, teils chaotische Organisation von Ruth-Alice und Reuven Moskovitz einlassen musste. Das Wesentliche haben wir aber gehört und gesehen. Jeden Morgen Andacht mit vielen Gebetbüchern, wandern durch die blühende Wüste, nackt Baden in einem Wadi ‒ ich nicht, weil ich mich genierte! Beten auf dem Sinai. Wieviel Dank schulde ich ihr allein für diese Reise!

Schließlich Hamburg in der Nähe von drei Söhnen. Die gemütliche und chaotische Wohnküche am Klosterstern. Der alte Freundeskreis, Albrechts und Kulenkampffs zu köstlicher Ente und den Gesprächen wie vor fünfzig Jahren. Der 80. Geburtstag von Klaus. Die Liebeserklärung an ihn von Maria. Schließlich ein Vortrag bei Albrechts. Klaus prostet mir zu, lächelt und stirbt. Es wird erreicht, dass er in seiner Hamburger Höhle liegen darf, wo wir von dem sehr glücklich aussehenden Klaus Abschied nehmen dürfen. Dann fast ein Staatsbegräbnis mit schönster Orgelmusik in der Kirche St. Johannis von Organist Christoph Banzer. Auch Weizsäcker war unter den Trauernden. Zum Grab wird er mit dem Lied „Geh aus mein Herz“ von seinen Söhnen getragen und unter großen Bäumen spielte Reuven Moskovitz wie damals in Israel auf seiner Mundharmonika.

Ruth-Alice als Witwe überrascht mit ihrem Umzug nach St. Anschar. Sie gründet eine Bürgerinitiative, mischt St. Anschar auf und ergreift im Heim die Initiative zu einem Gebets- und einem Singkreis. Immer, wenn ich sie besuchte, war sie voll neuer Gedanken, zuletzt dann mehr und mehr bemüht, dass Klaus in der Erinnerung richtig gewürdigt wird. Immer wieder sagt sie mir, wie glücklich und dankbar sie ist über die Zuwendung der großen Familie. Es war gar nicht einfach, einen Termin zu einem Besuch zu bekommen. Ich bedaure es nur, dass ich nicht öfter mit ihr Alsterdampfer gefahren bin. Das habe ich sowohl mit ihr als mit Klaus gemacht und sie haben es beide so genossen. Auf diesen Gedanken kommt wohl nur ein Hamburger. Ob einer der Bismarcks oder einer von Lala’s Nachkommen [Werburg v. Wedemeyer, eine jüngere Schwester von Ruth-Alice] jemals Alsterdampfer gefahren ist?

Wenn ich an Ruth-Alice denke, so erinnere ich mich besonders daran, dass sie in einem intensiven Gespräch auf einmal verstummte ‒ und dann, nach einiger Zeit, kam eine Bemerkung heraus, die die Sache genau auf den Punkt brachte. Ich habe dann immer an die Worte in der Bibel gedacht: „Maria bewegte diese Worte in ihrem Herzen.“ Ruth-Alice bewegte auch manches Wort in ihrem Herzen. Mit großem Erfolg.

Schließlich hatte ich das Glück, kurz nach ihrem Tod noch einmal bei ihr zu sein. Sie lag in ihrem Bett mit einem so würdigen, gesammelten Gesicht wie eine Äbtissin auf einem Grabmal in einer Kirche. Ihre Beerdigung wieder ein Staatsbegräbnis. Sie wurde beinahe heiliggesprochen. Da hätte sie aber heftig protestiert!

November 2016

Alice Haidinger