Ruth-Alice

Flüchtlingsheimat Oberbehme/Westfalen

  Oberbehme 1945-1949: Nach fast vierwöchiger Fahrt kam die hochschwangere Ruth-Alice mit Bertha Volck, Dane genannt, und den beiden Kindern Gottfried und Hans am 28. Februar 1945 bei der Familie von Laer auf Gut Oberbehme im Kreis Herford an. In der Region rückten wenig später die westlichen Alliierten ein. Westfalen wurde Teil der britischen Besatzungszone und zählte unter den westdeutschen Ländern bald zu den drei Gebieten mit der höchsten Zahl an Flüchtlingen. Letztlich suchten zwölf Millionen Flüchtlinge aus dem Osten Schutz in den westlichen Besatzungszonen, was zu vielfältigen Schwierigkeiten führte, und so war es eine glückliche Fügung, dass Ruth-Alice und ihre Kinder bei Verwandten unterkommen konnten. Allerdings hieß dies für Ruth-Alice, sich mitten unter achtzig anderen Flüchtlingen auf dem Gut zu arrangieren und zurechtzufinden. Sozialprestige zählte nicht mehr. Das Gut Oberbehme, ein ehemaliges Wasserschloss, war seit dem frühen 19. Jahrhundert im Besitz der Familie von Laer, in die Friederike von Wedemeyer, eine Schwester von Hans von Wedemeyer, eingeheiratet hatte. Mit ihrem Ehemann Karl von Laer hatte Friederike zwei Töchter, Maximiliana (Maxa) und Annette. v. l.: Maximiliana (Maxa) und Annette von Laer Die Verwaltung des Gutes lag in den Händen der Töchter. Sie regelten das Zusammenleben der vielen Flüchtlinge, die auf dem Gut eine erste Heimat fanden. Den damaligen Alltag in Oberbehme hat Ruth-Alice von Bismarck in einem Interview anschaulich beschrieben. Sie blieb mit ihren Kindern und Dane bis 1949 dort wohnen. Für ihren Mann begann in dieser Zeit der berufliche Neuanfang durch Tätigkeiten in der Jugendarbeit auf dem Jugendhof Vlotho. Die Begegnungen in Vlotho setzten Lernprozesse in Gang, von denen Ruth-Alice ihr ganzes Leben lang profitieren sollte. In Oberbehme kam Ende März 1945 Klaus zur Welt. Ihm folgten Ernst, 1947, und Friedrich, 1948. Obwohl die Flüchtlingssituation in Oberbehme mit Hausarbeit und inzwischen fünf kleinen Kindern schwer genug war, fand Ruth-Alice von Bismarck die Zeit, anekdotisch die Erlebnisse mit ihren Söhnen aufzuschreiben („O diese Bismarck-Jungs!“) und für Gottfried ein kleines Liederbuch mit Zeichnungen anzulegen. Und sie suchte auch nach einer Aufgabe außerhalb des Haushalts, was ihr aber erst später, beginnend in Haus Villigst, zunehmend befriedigend gelingen sollte. Aus der Zeit in Oberbehme stammt das erste Gästebuch des Ehepaares, ein Schulheft auf schlechtem Nachkriegspapier, mit knappen Einträgen unter anderen von dem Schauspieler Mathias Wiemann und dem Reformpädagogen Hans Alfken. Es ist ein erstes Zeugnis vom Beginn der gesellschaftlichen Aktivitäten des Ehepaares, das auch in den entbehrungsreichen Jahren nach Kriegsende ein gastfreundliches Haus führte. Freundschaftlich verbunden war das Ehepaar mit den beiden evangelischen Pfarrern und späteren Bischöfen Hans Thimme und Ernst Wilm. Die Arbeit ihres Mannes auf dem Jugendhof Vlotho erlebte Ruth-Alice von Bismarck vor allem von Oberbehme aus. Auch für sie hielt das Leben auf dem Jugendhof neue Erfahrungen und Lernprozesse bereit. Weiterführende Dokumente: Ruth-Alice von Bismarck über den Alltag in Oberbehmeund über dortige LernprozesseRuth-Alice von Bismarck: „O diese Bismarck-Jungs!“(Transkription)Liederbuch für GottfriedOberbehme in den Erinnerungen von Trudel Sassenhagen geb. NatorpGästebuch der Familie von Bismarck in OberbehmeRuth-Alice über Hans Thimme und Ernst WilmRuth-Alice von Bismarck über Erste Aktivitäten in der Evangelischen Kirche von Westfalen Ruth-Alice mit Sohn Christian,...

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„Ein gewaltig konzentriertes Lebensgefühl“

  Haus Villigst 1949-1961: Für Ruth Alice von Bismarck bedeutete der Umzug nach Haus Villigst bei Schwerte an der Ruhr die Beendigung der Flüchtlingsexistenz und der Wochenendbeziehung mit ihrem Mann Klaus. Erstmals wohnte die Familie zusammen unter einem Dach. Sie vergrößerte sich um zwei weitere Söhne und eine Tochter. Trotz wachsender Familienaufgaben erweiterte Ruth-Alice ihren Interessens- und Handlungsspielraum außerhalb familiärer Aufgaben. Für Klaus von Bismarck begann mit dem Aufbau des „Sozialamts“ der Evangelischen Kirche in Villigst ein neuer beruflicher Lebensabschnitt, der ihm und Ruth-Alice auch die ersten großen Auslandsreisen brachte. „Villigst“ wurde für die Familie zur vielstimmigen und inspirierenden Heimat. In einer bisher unbekannten Art und Weise lebte sie dort mit Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft, Erziehung und gegensätzlichen Ansichten zusammen. Die Villigster Lebensgemeinschaft auf Zeit stellte das Familienleben der Bismarcks in einen größeren sozialen, kirchlichen und politischen Zusammenhang, als es Ruth-Alice bisher von den Gütern Pätzig und Kniephof/Jarchlin kannte. Von ihr als eine „Lebens- und Glaubens- und Verarbeitungsgemeinschaft“ charakterisiert, entwickelte die auf Freiwilligkeit basierende Glaubensgemeinschaft eine eigene, einfache Liturgie für die gemeinsamen Andachten. In dieser Gemeinschaft lernte Ruth-Alice gleichermaßen behutsam wie intensiv nach der deutschen, kirchlichen und persönlichen „Schuld“ im Nationalsozialismus zu fragen. „In einem kleinen Kreis ging es um die Schuld des Nationalsozialismus. […] In Villigst war die wichtigste Erfahrung, dass wir einen Zugang zur Vergebung Gottes fanden“, erinnerte sich Ruth-Alice von Bismarck. Im Kornspeicher zu Hause Eine gemeinsame Wohnung fand die Familie, die mit Dane [Bertha Volck] und ein oder zwei Haustöchtern (Hausangestellten) schließlich bis zu 13 Personen zählte, in einem umgebauten Kornspeicher. Die Möbel stammten aus dem aufgelösten Michaelshaus aus Hamburg (Berneuchener Bewegung): „Eisenbetten, buntgestrichene Militärschränke, schauderhafte Elefantensessel“, so beschrieb Ruth-Alice von Bismarck später die erste Einrichtung. Ihr zufolge „begann ein eigenes Zuhause in einer großen Hausgemeinschaft zu wachsen“. Ein „Konto-Buch“ dokumentiert die eher bescheidenen Lebenshaltungskosten der großen Familie. In den Villigster Jahren wurden die Söhne Christian, 1950, Thomas, 1952, und die Tochter Maria, 1959, geboren. Haustöchter unterstützen Ruth-Alice und Dane in der Kinderbetreuung und im Haushalt. In der Villigster Zeit unternahm die Familie auch erste Ferienreisen, zum Beispiel an den Chiemsee, und hielt die Reiseerlebnisse in einem Reisetagebuch fest. Soziales und religiöses Leben Die Kapelle in Haus Villigst Das soziale Leben, wozu auch gemeinsame Feiern, die Ruth-Alice sehr am Herzen lagen, und Theateraufführungen gehörten, gestalteten die Werkstudenten ‒ unter ihnen auch einige wenige Studentinnen (1951: 4 von 41) ‒ mit. Sie alle trugen dazu bei, dass „ein gewaltig konzentriertes Lebensgefühl“ (Ruth-Alice) entstehen konnte. Die Kapelle im Keller des Haupthauses war der Ort der Ruhe in dem umtriebigen täglichen Leben. Dort fanden die täglichen Abendandachten statt, die abwechselnd von den Leitern und den Werkstudenten gehalten wurden. Auch Klaus von Bismarck beteiligte sich daran, sein Tag war der Freitag. Von ihm sind über hundert handschriftliche Anmerkungen und Notizen im Familienarchiv erhalten. Die Andachten entwickelten sich zu einem gemeinsamen Element des Zusammenlebens. Dazu gehörte auch das Krippenspiel zu Weihnachten, bei dem das Ehepaar von Bismarck zweimal die Rollen von Maria und Josef übernahm. Grenzen überschreiten Bei der Erprobung neuer Lebens- und Wohnformen in Villigst ‒ für die 1950er Jahre und rund anderthalb Jahrzehnte vor „68“ eher ungewöhnlich ‒ mussten sich die Frauen in der „Männerdomäne“ Haus Villigst (Ruth-Alice) allerdings auch Gehör und Mitsprache erkämpfen. Ruth-Alice erinnerte sich, dass Frauen in Villigst eher als „Versöhnungselemente“ gesehen wurden und bei den Andachten „nicht gefragt“ waren, „hier hatten die leitenden Männer und die Studenten das Wort“. Und weiter: „Ich wollte beim Sozialamt auch eine Bibelstunde einrichten, das hat aber nicht funktioniert. Immer kam man an seine Grenzen“. Also suchten die (Ehe-)Frauen nach Wegen der Beteiligung an religiöser Unterrichtung, bei den Andachten und aktiver Teilnahme an theologischen Fragen. Erst mit der Bildung der „Seelenbinderstunde“...

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Die Perspektiven der anderen Seiten einbeziehen

  Köln 1961-1976: Die Villigster Jahre beschrieb Ruth-Alice von Bismarck als die Zeit, die ihr Leben und das ihres Mannes am tiefsten und entscheidendsten geprägt habe. Mit dem Wechsel nach Köln eröffneten sich für alle Familienmitglieder jedoch ganz neue Perspektiven des familiären, sozialen und beruflichen Lebens. Ruth-Alice von Bismarck setzte in den Kölner Jahren erstmals eigene öffentliche Akzente in gesellschaftspolitischen Fragen. Mit dem Einzug in ein modernes Haus im Kölner großbürgerlichen Villenviertel Marienburg lebte die Familie von da an als Großfamilie repräsentativ. Für Ruth-Alice begann aber auch eine neue Phase des Familienlebens mit den heranwachsenden beziehungsweise inzwischen auch schon erwachsen gewordenen Kindern in den politisch turbulenten 1960er und 1970er Jahren. Wie in Villigst engagierte sich Ruth-Alice in Köln wieder im kirchlichen Bereich. Sie traf als Mitglied der Gemeinde der Reformationskirche in der Goethestraße allerdings auf ein anderes Verständnis vom Verhältnis zwischen Gemeinde und Pfarrer, womit sie sich erst einmal auseinandersetzen musste. Gesellschaftliches Engagement Predigt von Bischof Irinäus in Agia Sophia/Kreta, 1976 Als ihr wichtigstes Engagement sah sie ihren Einsatz für die sogenannten Gastarbeiter. Früher als die meisten Deutschen beschäftigten sie die Arbeitsmigranten aus Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, die seit den 1950er Jahren im Rheinland vor allem in der Industrie arbeiteten. Dabei kam sie auf den Gedanken, ein „Gastarbeiterweihnachten“ zu organisieren und dieses Ziel mit Hartnäckigkeit zu verfolgen. Die Kontakte zu den Kölner „Gastarbeitern“ führte Ruth-Alice auch zum Freundeskreis Philoxenia und regte zur Beschäftigung mit der orthodoxen Kirche Griechenlands an. Eine der Tagungen des Freundeskreises fand auf Kreta, im Geburtsort von Bischof Irinäus statt, mit dem Ruth-Alice freundschaftlich verbunden war. Ein weiteres gesellschaftliches Anliegen, das unmittelbar mit dem Arbeitsmigranten und ihren Familien zusammenhing, war für sie die Integration der Kinder in den deutschen Schulalltag. Als stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises für Partnerschaft und Integration „Europa in Köln“ betonte sie vor allem die Chancen und den Gewinn im Zusammenleben mit Ausländern und die Möglichkeiten der Bereicherung des Schulunterrichts durch deren Kinder. Auch zu anderen Fragen war Ruth-Alice als Interviewpartnerin gefragt, so zum Beispiel zum Thema „Muttertag“. Für die sozialen Kontakte im Wohnviertel Marienburg sorgten vor allem die jüngeren Kinder, was dazu führte, dass Ruth-Alice eine Jugendgruppe initiierte: „In Köln fing alles mit einer Gruppe von Kindern an. Frieder und Chrischi waren die einzigen Kinder, die mir erlaubten ihr Leben zu teilen und mitzugestalten. Zusammen mit anderen Müttern, die gleichaltrige Kinder hatten, konnte ich also eine Jugendgruppe aufbauen. Die Kinder spielten zusammen Theater und sangen. So konnten sie in ihrer Pubertätsphase als glückliche Gemeinschaft miteinander leben.“ Diskussion um die „verlorene Heimat“ Auf ihre Weise beteiligte sie sich an der öffentlichen Auseinandersetzung um die „verlorene Heimat“. Bereits auf dem 6. Evangelischen Kirchentag in Leipzig 1954 hatte ihr Mann erklärt, „dass wir vor Gott kein Recht darauf haben, das wieder zu erhalten, was er uns genommen hat“. Bei den Vertriebenenverbänden, „die damals in der Blüte ihres innenpolitischen Einflusses standen“ (J. Schmid), rief diese Aussage heftigste Entrüstung und Kritik hervor. Solche bekam auch Ruth-Alice zu spüren, nachdem sie in der ZEIT vom 4. September 1964 über ihre Eindrücke auf einer Fahrt durch Pommern berichtete. Der Bericht erschien auch im Naugarder Heimatbrief 1964. Entrüstung und Beschimpfung, Gegenreden und Anwürfe folgten auch auf einen Vortrag, den sie 1966 in der Evangelischen Akademie Hamburg hielt. Einiges davon aus der Ostpreußen Zeitung und dem Ostpreußenblatt hat sie aufbewahrt. Öffentlich zu sagen, dass sie auf ihre Heimat verzichten wolle, wenn dadurch andere (die inzwischen ansässigen Polen) vertrieben würden, war zu dieser Zeit ohne massive Wiederrede nicht möglich und erforderte einigen Mut. Aber es gab auch Zustimmung, die ihr in sehr persönlich gehaltenen Briefen versichert wurde. Als ihr Mann 1977 zur Übernahme...

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Soziales und staatsbürgerliches Engagement

  München 1977-1995: Neue und selbstgewählte Aufgaben führten Ruth-Alice in andere gesellschaftliche Bereiche als ihren Ehemann und verbanden sie mit einem eigenen Freundeskreis. Eine besondere Stellung nahmen dabei die Frauengruppe „Neue Freiheit“ und der „Schalom-Kreis“ ein. Zu den gemeinsamen Aktivitäten von Ruth-Alice und Klaus in diesen Jahren zählten vor allem Reisen in Länder auf allen Kontinenten. Die Besuche in Israel und die fortdauernde Beschäftigung mit der Geschichte, Kultur und Religion von Land und Menschen bescherten Ruth-Alice intensive Erlebnisse und persönliche Kontakte. Ruth-Alice soziales und staatsbürgerliches Engagement der Münchner Jahre spiegelt die beherrschenden Themen dieser zwei Jahrzehnte wider: Der Aufbruch der Frauen aus den traditionellen Rollenmustern und die Sensibilisierung weiter Bevölkerungskreise für die Gefährdung der Lebensgrundlagen in der modernen Welt. Das Erscheinen des Buches Silent spring/Der stumme Frühling (1962 dt. und engl.) von Rachel Carson wird als Initialzündung der Umweltbewegung gesehen. Die von Carson beschriebenen verheerenden Auswirkungen auf die Vogel- und Insektenwelt der USA durch die flächendeckende Anwendung von DDT (Dichlordiphenyltrichloräthan) in der Landwirtschaft bewirkten bei vielen Menschen ein Umdenken. Namen wie Seveso (1976), Bhopal (1984) und Sandoz/Basel (1986) führten später vor Augen, dass Umweltschäden nicht regionale, sondern globale Probleme darstellten. Parallel aktivierten die schweren Unfälle in den Atomreaktoren von Harrisburg/USA (1979) und Tschernobyl/Ukraine (1986) die Anti-Atom-Bewegung der Nachkriegszeit neu. Die Friedensbewegung, ebenfalls im Nachkriegsdeutschland eine wichtige Bürgerbewegung, reorganisierte sich in den 1980er und 1990er Jahren bei Friedenscamps in Mutlangen, um den Abzug der dort stationierten der Pershing II-Raketen zu erreichen. Zum Kirchentag 1983 in Hannover veröffentlichte der evangelische Theologe, Pfarrer und Publizist Jörg Zink in der Zeitschrift Publik-Forum seine Gedanken zu einem weltweiten Friedenskonzil. Auf dem folgenden Kirchentag 1985 in Düsseldorf erarbeitete Carl Friedrich von Weizsäcker auf der Basis dieser Überlegungen eine Resolution, die heftig in den ökumenischen Konferenzen diskutiert wurde. In einem Brieffragment skizziert Ruth-Alice ihre Gedanken zur Friedensbewegung und zu Weizsäckers Vorschlag gegenüber Alfred Mechtersheimer vom Forschungsinstitut für Friedenspolitik, ein internationales Friedenskonzil der Kirchen einzuberufen. Die Mitglieder des "Shalom-Kreis" vor dem Haus Römerstraße 4 in München In den fast zwei Jahrzehnten der Münchner Existenz engagierte sich Ruth-Alice von Bismarck bei Themen des Umweltschutzes in seinen verschiedenen Verästelungen auch im privaten Umfeld: Sie initiierte und unterstützte die Schwabinger Initiative zur Kompostierung, war eine der Aktivistinnen des innovativen Modells „Römermüll“, das inzwischen von der Stadt in ganz München durchgeführt wird, wie eine Zeitzeugin berichtet, und trat für Mehrwegverpackungen ein. Mit der Herausgabe des „Römerblättchens“ bildete sie ein Zentrum in Schwabing. Zu den weiteren Engagements zählten Aktionen gegen die Lärmbelästigung durch hohe Verkehrsdichte in den Innenstädten, aber auch Unterstützung bei Bürgerbegehren zu mehr demokratischer Mitentscheidung. Die Initiative und das Engagement von Ruth-Alice von Bismarck beschränkten sich keineswegs auf „Mitmachen“, vielmehr trat sie aktiv als Initiatorin, Organisatorin und Gesprächspartnerin auf. Als Initiatorin von Gesprächsgruppen wie dem Frauenkreis „Neue Freiheit“ oder dem „Schalom-Kreis“  brachte Ruth-Alice nicht nur Kenntnisse ein, sie war verbindendes Element, sie sorgte auch für Kontinuität, und nicht zuletzt zeichnete sie sich für Veröffentlichungen auch presserechtlich verantwortlich. Von Kontinuität ist auch ihr Engagement im interreligiösen Dialog gekennzeichnet. Über mehrere Jahre nahm sie an deutsch-jüdischen Bibelwochen in Israel oder in Deutschland teil. Während einer der Bibelwochen lernte Ruth-Alice Minna Issler kennen, eine blinde Jüdin, die sie sehr beeindruckte, der sie sich bald sehr verbunden fühlte und die zeitweise in der Münchner Wohnung mitlebte. Weltweite Reisen führten Ruth-Alice unter anderem 1975 nach Südafrika und zusammen mit ihrem Ehemann Klaus nach Südamerika 1979 und in den 1980er Jahren in die Türkei, nach Ostasien, nach Japan, Australien und Ägypten. Mehrmals besuchten sie Polen und Israel. Insbesondere die Aussöhnung mit Polen sowie das Verständnis für die Geschichte und politische Situation Israels hatten große Bedeutung in der Auseinandersetzung...

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Eine innere Heimat im Glauben finden

  Hamburg 1995-2013: Auch im fortgeschrittenen Alter wechselte Ruth-Alice mehrmals ihre Wohnung, fortan jedoch nur noch innerhalb ihrer neuen Wahlheimat Hamburg. Dort betätigte sie sich weiterhin als „Anstifterin“ für soziales und politisches Engagement und war an vielen anderen Stellen privat und öffentlich aktiv. Festakt der BürgerStiftung Hamburg am 27. September 2004, bei dem Ruth-Alice von Bismarck für ihr Engagement geehrt wurde Ein Vortrag im privaten Rahmen von Professor Christian Pfeiffer über die Bürgerstiftung Niedersachsen 1997 inspirierte Ruth-Alice von Bismarck dazu, in Hamburg ebenfalls eine solche Bürgerstiftung anzuregen. Rasch fand sich ein Kreis von etwa 20 Personen, die die Initiative vorantrieben und überregionale Kontakte knüpften. Unter Federführung des Notars a.D. und späteren Ersten Vorstandssprechers Dr. Klaus Rollin und seiner Frau gelang 1999 die Gründung der BürgerStiftung Hamburg. Parallel organisierte Ruth-Alice eine ökumenische Begleitung der umstrittenen sogenannten Wehrmachtsausstellung mit, die 1999 in Hamburg ein zweites Mal gezeigt wurde. Zum Programm gehörten Vorträge und Diskussionsrunden sowie die psychologisch-seelsorgliche Begleitung von Ausstellungsbesuchern durch eigens dafür angeworbene, fachlich versierte Mitstreiter. Vor allem Kinder und Enkel, die unter dem Schweigen ihrer Väter und Großväter über die Zeit in der Wehrmacht sehr gelitten hatten, nahmen dieses Angebot an. Beide großen christlichen Kirchen trugen die private Initiative aktiv mit. Immer wieder unterstützte Ruth-Alice von Bismarck Familienangehörige bei öffentlichen Auftritten. Als beispielsweise ihre Schwester Werburg Doerr 2003 ihre Erinnerungen an die Kindheit in Pommern veröffentlichte, begleitete Ruth-Alice sie zu Lesungen. Nach dem Tod ihre Ehemannes 1997 wohnte Ruth-Alice zunächst weiter in der Wohnung Jungfrauenthal. Sie vermietete Zimmer an Studierende der Musikhochschule unter der Maßgabe, sich für ein Konzert pro Woche zu verpflichten. Obwohl nachlassende Kräfte eine Beschränkung auf weniger Wohnraum forderten, nahm sich Ruth-Alice in ihrem Engagement nicht zurück. Es verkleinerten sich zwar der unmittelbare Lebensraum, nicht aber ihre Interessensgebiete. Sie blieb kritisch gegenüber allem, was in ihrer Umgebung geschah, auch nach dem Umzug 1999 in ein Appartement im Haus Emilienstift, das zur evangelischen Stiftung Anscharhöhe gehört, und schließlich, nach einer schweren Erkrankung und anschließender Genesung in ein Ein-Zimmer-Appartement im Carl-Ninck-Haus. Trotz zunehmender gesundheitlicher Beeinträchtigungen blieb sie weiterhin eine geschätzte Gesprächspartnerin für zahlreiche Menschen, die sie in ihrem Apartment besuchten und Briefpartnerin für alle, die nicht nach Hamburg reisen konnten. Eine unbequeme kritische Stimme Regelmäßig arbeitete sie im Heimbeirat auf der Anscharhöhe mit, und sie zeigte ein ungebrochenes Interesse an anderen Menschen, an deren Leben und Tätigkeiten. Sie schrieb Beiträge unter der Rubrik „Wussten Sie schon …?“ für die Hauszeitung Hier und Heute und für die Festschrift der Anscharhöhe zu deren 125-jährigen Bestehen 2011. Sie kommentierte dabei schon mal ironisch die Haltung eines Pastors, der „hier in der Anscharhöhe […] uns alte Leute immer abschieben wollte in die Ewigkeit. Aber das glückte ihm nicht!“ Ruth-Alice legte stets den Finger in die Wunde, was sie zu einer unbequemen, aber durchaus geschätzten kritischen Stimme werden ließ. Neue Baumaßnahmen, die Wohnzimmer aus Brandschutzgründen nicht vorsahen, spiegelten für sie den Umgang der Gesellschaft mit alten Menschen wider: „Gestern hatten wir eine herrliche Sitzung hier im Haus mit einem Mann, der dieses Haus leitet. Männer bauen ja immer so furchtbar gerne und dieser Mann baut ein großes neues Heim mit vielen neuen Zimmern. Es wird so gebaut, wie die Kinder, die ihre Eltern dann in dieses Heim abschieben, weil sie ihre alten Leute bei sich nicht mehr aushalten können, es gerne haben wollen. Die abgeschobenen Alten sollen möglichst viel Luxus haben, damit das schlechte Gewissen der Kinder beruhigt ist. Die Kinder zahlen das Geld und die alten Menschen, die da rein müssen, vereinsamen total. Sie bekommen Einzelzimmer mit Dusche und allem, was man will ‒ nur ein Wohnzimmer kann es nicht geben, denn der Brandschutz erlaubt es nicht, dass hier Sofas stehen! Es gibt also keine wirklichen Gemeinschaftsräume,...

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